Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.aus den Fugen der Geschichte zu lösen und ihn einer Humanität in die Arme zu legen, welche, keiner Zeit angehörend, vielmehr die Blüthe und das Resultat aller Zeiten seyn sollte. Gegen diese arkadienhafte Weltanschauung haben die gewaltigsten Ereignisse, die seit lange in der Geschichte geschehen sind, reagirt. All' unser Thun und Lassen, unser Denken und Fühlen ist jezt wieder recht lebhaft in den Markt des Lebens geschleudert; überall strebt man wieder nach positiven Verhältnissen, die Geschichte wird in ihre Rechte gesezt, die Verstandesabstraktionen werden durch Gefühlsleben und manche historische Ueberlieferung verdrängt; und vor allen Dingen sind durch die französische Revolution und die darauf folgenden Ereignisse die menschlichen Leidenschaften so entfesselt worden, daß man sie noch immer nicht wieder hat beschwichtigen können, sondern sogar zugeben mußte, daß sie in vielen Zweigen höherer menschlicher Thätigkeit, z. B. in der Kunst und Literatur, als Hebel einer freien und kräftigen Genialität fortwirken. Kann man nicht z. B. auf dem Theater finden, daß Edelmuth, also eine Tugend der Beschränkung und Entsagung, nur das vorige Jahrhundert rühren konnte, während man jezt die Schönheit nur anerkennt, wenn sie uns erschüttert, und sie nur noch in Form der das Auge rollenden und die Locken des Hauptes schüttelnden Leidenschaft allein wiedererkennen will. All' dies gewaltthätige und heftige Wesen mußte auch die Grundvesten der Sitte wankend aus den Fugen der Geschichte zu lösen und ihn einer Humanität in die Arme zu legen, welche, keiner Zeit angehörend, vielmehr die Blüthe und das Resultat aller Zeiten seyn sollte. Gegen diese arkadienhafte Weltanschauung haben die gewaltigsten Ereignisse, die seit lange in der Geschichte geschehen sind, reagirt. All’ unser Thun und Lassen, unser Denken und Fühlen ist jezt wieder recht lebhaft in den Markt des Lebens geschleudert; überall strebt man wieder nach positiven Verhältnissen, die Geschichte wird in ihre Rechte gesezt, die Verstandesabstraktionen werden durch Gefühlsleben und manche historische Ueberlieferung verdrängt; und vor allen Dingen sind durch die französische Revolution und die darauf folgenden Ereignisse die menschlichen Leidenschaften so entfesselt worden, daß man sie noch immer nicht wieder hat beschwichtigen können, sondern sogar zugeben mußte, daß sie in vielen Zweigen höherer menschlicher Thätigkeit, z. B. in der Kunst und Literatur, als Hebel einer freien und kräftigen Genialität fortwirken. Kann man nicht z. B. auf dem Theater finden, daß Edelmuth, also eine Tugend der Beschränkung und Entsagung, nur das vorige Jahrhundert rühren konnte, während man jezt die Schönheit nur anerkennt, wenn sie uns erschüttert, und sie nur noch in Form der das Auge rollenden und die Locken des Hauptes schüttelnden Leidenschaft allein wiedererkennen will. All’ dies gewaltthätige und heftige Wesen mußte auch die Grundvesten der Sitte wankend <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0027" n="25"/> aus den Fugen der Geschichte zu lösen und ihn einer Humanität in die Arme zu legen, welche, keiner Zeit angehörend, vielmehr die Blüthe und das Resultat <hi rendition="#g">aller</hi> Zeiten seyn sollte. Gegen diese arkadienhafte Weltanschauung haben die gewaltigsten Ereignisse, die seit lange in der Geschichte geschehen sind, reagirt. All’ unser Thun und Lassen, unser Denken und Fühlen ist jezt wieder recht lebhaft in den Markt des Lebens geschleudert; überall strebt man wieder nach positiven Verhältnissen, die Geschichte wird in ihre Rechte gesezt, die Verstandesabstraktionen werden durch Gefühlsleben und manche historische Ueberlieferung verdrängt; und vor allen Dingen sind durch die französische Revolution und die darauf folgenden Ereignisse die menschlichen Leidenschaften so entfesselt worden, daß man sie noch immer nicht wieder hat beschwichtigen können, sondern sogar zugeben mußte, daß sie in vielen Zweigen höherer menschlicher Thätigkeit, z. B. in der Kunst und Literatur, als Hebel einer freien und kräftigen Genialität fortwirken. Kann man nicht z. B. auf dem Theater finden, daß Edelmuth, also eine Tugend der Beschränkung und Entsagung, nur das vorige Jahrhundert rühren konnte, während man jezt die Schönheit nur anerkennt, wenn sie uns erschüttert, und sie nur noch in Form der das Auge rollenden und die Locken des Hauptes schüttelnden Leidenschaft allein wiedererkennen will. All’ dies gewaltthätige und heftige Wesen mußte auch die Grundvesten der Sitte wankend </p> </div> </body> </text> </TEI> [25/0027]
aus den Fugen der Geschichte zu lösen und ihn einer Humanität in die Arme zu legen, welche, keiner Zeit angehörend, vielmehr die Blüthe und das Resultat aller Zeiten seyn sollte. Gegen diese arkadienhafte Weltanschauung haben die gewaltigsten Ereignisse, die seit lange in der Geschichte geschehen sind, reagirt. All’ unser Thun und Lassen, unser Denken und Fühlen ist jezt wieder recht lebhaft in den Markt des Lebens geschleudert; überall strebt man wieder nach positiven Verhältnissen, die Geschichte wird in ihre Rechte gesezt, die Verstandesabstraktionen werden durch Gefühlsleben und manche historische Ueberlieferung verdrängt; und vor allen Dingen sind durch die französische Revolution und die darauf folgenden Ereignisse die menschlichen Leidenschaften so entfesselt worden, daß man sie noch immer nicht wieder hat beschwichtigen können, sondern sogar zugeben mußte, daß sie in vielen Zweigen höherer menschlicher Thätigkeit, z. B. in der Kunst und Literatur, als Hebel einer freien und kräftigen Genialität fortwirken. Kann man nicht z. B. auf dem Theater finden, daß Edelmuth, also eine Tugend der Beschränkung und Entsagung, nur das vorige Jahrhundert rühren konnte, während man jezt die Schönheit nur anerkennt, wenn sie uns erschüttert, und sie nur noch in Form der das Auge rollenden und die Locken des Hauptes schüttelnden Leidenschaft allein wiedererkennen will. All’ dies gewaltthätige und heftige Wesen mußte auch die Grundvesten der Sitte wankend
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/27>, abgerufen am 05.07.2024. |