Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.die alten Kunstwerke mit Linien und Zirkeln bemalen. Sie müssen an ihnen Längen und Kürzen messen. Sie müssen sich zu ihrer Beruhigung eingestehen, daß hie und da etwas verfehlt ist, daß wir in diesem oder jenem, was die Anatomie oder die Technik anlangt, bessere Fortschritte gemacht haben. So hört die große Vergangenheit auf, nur noch ein Gegenstand der Bewunderung zu seyn; sie wird ein breites, übersichtliches Feld, das wir in die Länge und Breite, Höhe und Tiefe ausmessen und wo wir von den einzelnen Beeten und Pflanzen Samen erzielen, zu unserer eigenen Befruchtung. Diese Stellung des heutigen Künstlers muß natürlich eine weit größere Reflexion voraussetzen, als sie vielleicht die Alten hatten. Dem unmittelbaren Momente werden die Neuern noch immer mißtrauen müssen, sie werden, noch ehe das Kunstwerk geschaffen, schon seine Wirkung prüfen, sie werden endlich den Thon, aus welchem sie bilden wollen, mit zahllosen Rücksichten befeuchten und somit nur Vermitteltes schaffen müssen. Diese kritische Richtung ergreift die Kunst zu Zeiten mehr oder weniger, auch ergreift sie die verschiedenen Künste nicht zu gleicher Zeit, sondern sie wechselt mit einer und der andern ab. Jm vorigen Jahrhundert war es besonders die Musik, der man ansah, daß in ihr die Theorie eine Menge Bedenklichkeiten schuf, wie sie, selbst bei genialen Meistern, die anfluthenden Tonmassen bewältigen sollen. Dann verloren sich die bildenden die alten Kunstwerke mit Linien und Zirkeln bemalen. Sie müssen an ihnen Längen und Kürzen messen. Sie müssen sich zu ihrer Beruhigung eingestehen, daß hie und da etwas verfehlt ist, daß wir in diesem oder jenem, was die Anatomie oder die Technik anlangt, bessere Fortschritte gemacht haben. So hört die große Vergangenheit auf, nur noch ein Gegenstand der Bewunderung zu seyn; sie wird ein breites, übersichtliches Feld, das wir in die Länge und Breite, Höhe und Tiefe ausmessen und wo wir von den einzelnen Beeten und Pflanzen Samen erzielen, zu unserer eigenen Befruchtung. Diese Stellung des heutigen Künstlers muß natürlich eine weit größere Reflexion voraussetzen, als sie vielleicht die Alten hatten. Dem unmittelbaren Momente werden die Neuern noch immer mißtrauen müssen, sie werden, noch ehe das Kunstwerk geschaffen, schon seine Wirkung prüfen, sie werden endlich den Thon, aus welchem sie bilden wollen, mit zahllosen Rücksichten befeuchten und somit nur Vermitteltes schaffen müssen. Diese kritische Richtung ergreift die Kunst zu Zeiten mehr oder weniger, auch ergreift sie die verschiedenen Künste nicht zu gleicher Zeit, sondern sie wechselt mit einer und der andern ab. Jm vorigen Jahrhundert war es besonders die Musik, der man ansah, daß in ihr die Theorie eine Menge Bedenklichkeiten schuf, wie sie, selbst bei genialen Meistern, die anfluthenden Tonmassen bewältigen sollen. Dann verloren sich die bildenden <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0252" n="250"/> die alten Kunstwerke mit Linien und Zirkeln bemalen. Sie müssen an ihnen Längen und Kürzen messen. Sie müssen sich zu ihrer Beruhigung eingestehen, daß hie und da etwas verfehlt ist, daß wir in diesem oder jenem, was die Anatomie oder die Technik anlangt, bessere Fortschritte gemacht haben. So hört die große Vergangenheit auf, nur noch ein Gegenstand der Bewunderung zu seyn; sie wird ein breites, übersichtliches Feld, das wir in die Länge und Breite, Höhe und Tiefe ausmessen und wo wir von den einzelnen Beeten und Pflanzen Samen erzielen, zu unserer eigenen Befruchtung. Diese Stellung des heutigen Künstlers muß natürlich eine weit größere Reflexion voraussetzen, als sie vielleicht die Alten hatten. Dem unmittelbaren Momente werden die Neuern noch immer mißtrauen müssen, sie werden, noch ehe das Kunstwerk geschaffen, schon seine Wirkung prüfen, sie werden endlich den Thon, aus welchem sie bilden wollen, mit zahllosen Rücksichten befeuchten und somit nur Vermitteltes schaffen müssen. Diese kritische Richtung ergreift die Kunst zu Zeiten mehr oder weniger, auch ergreift sie die verschiedenen Künste nicht zu gleicher Zeit, sondern sie wechselt mit einer und der andern ab. Jm vorigen Jahrhundert war es besonders die Musik, der man ansah, daß in ihr die Theorie eine Menge Bedenklichkeiten schuf, wie sie, selbst bei genialen Meistern, die anfluthenden Tonmassen bewältigen sollen. Dann verloren sich die bildenden </p> </div> </body> </text> </TEI> [250/0252]
die alten Kunstwerke mit Linien und Zirkeln bemalen. Sie müssen an ihnen Längen und Kürzen messen. Sie müssen sich zu ihrer Beruhigung eingestehen, daß hie und da etwas verfehlt ist, daß wir in diesem oder jenem, was die Anatomie oder die Technik anlangt, bessere Fortschritte gemacht haben. So hört die große Vergangenheit auf, nur noch ein Gegenstand der Bewunderung zu seyn; sie wird ein breites, übersichtliches Feld, das wir in die Länge und Breite, Höhe und Tiefe ausmessen und wo wir von den einzelnen Beeten und Pflanzen Samen erzielen, zu unserer eigenen Befruchtung. Diese Stellung des heutigen Künstlers muß natürlich eine weit größere Reflexion voraussetzen, als sie vielleicht die Alten hatten. Dem unmittelbaren Momente werden die Neuern noch immer mißtrauen müssen, sie werden, noch ehe das Kunstwerk geschaffen, schon seine Wirkung prüfen, sie werden endlich den Thon, aus welchem sie bilden wollen, mit zahllosen Rücksichten befeuchten und somit nur Vermitteltes schaffen müssen. Diese kritische Richtung ergreift die Kunst zu Zeiten mehr oder weniger, auch ergreift sie die verschiedenen Künste nicht zu gleicher Zeit, sondern sie wechselt mit einer und der andern ab. Jm vorigen Jahrhundert war es besonders die Musik, der man ansah, daß in ihr die Theorie eine Menge Bedenklichkeiten schuf, wie sie, selbst bei genialen Meistern, die anfluthenden Tonmassen bewältigen sollen. Dann verloren sich die bildenden
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/252>, abgerufen am 16.07.2024. |