Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.in der Beherrschung der Leidenschaft, in einem Benehmen, das nichts Auffallendes haben darf. Wir werden, um die große Sittenveränderung zu verstehen, welche sich im Laufe der Jahrhunderte hat entwickeln können, einen Schritt weiter kommen, wenn wir dem Zusammenhang der Sitte mit dem Gesetze nachspüren. Folgen die Gesetze den Sitten? Ja. Folgen die Sitten den Gesetzen? Nein. Wenn ein Volk viel Sitten hat, so braucht es nur wenig Gesetze. Fast alle alten Gesetzgebungen, die man an die Namen Minos, Solon und Lykurg knüpft, drücken zunächst nichts anders aus, als das Festwerden der losen Gewohnheiten und die zum Gesetz erhobene Sitte. Lykurg wollte den Spartanern weder Gesetze noch Sitten geben. Er wollte nichts Neues aus ihnen schaffen, sondern den Stoff, der in ihnen lag, nur ausbilden. Lykurg wollte die Sitten nur erhalten. Seine Gesetze dienten zur Befestigung der Gewohnheiten, sie erhoben die Gewohnheiten selbst zum Gesetz. Alle Staaten, wo ein solches Verfahren möglich ist, werden eine kräftige Dauer verheißen und sich mit Energie in die Annalen der Geschichte schreiben. So ging auch bei den Römern Gesetz und Sitte Hand in Hand und erst in spätern Jahren des Verfalls, wo die Sitten erschlafft waren, wo die naturgemäße oder ererbte Gewohnheit ihre Heiligkeit verloren hatte, tauchten Gesetzgebungen auf, welche nur um ihrer selbst willen da zu seyn schienen und die in der Beherrschung der Leidenschaft, in einem Benehmen, das nichts Auffallendes haben darf. Wir werden, um die große Sittenveränderung zu verstehen, welche sich im Laufe der Jahrhunderte hat entwickeln können, einen Schritt weiter kommen, wenn wir dem Zusammenhang der Sitte mit dem Gesetze nachspüren. Folgen die Gesetze den Sitten? Ja. Folgen die Sitten den Gesetzen? Nein. Wenn ein Volk viel Sitten hat, so braucht es nur wenig Gesetze. Fast alle alten Gesetzgebungen, die man an die Namen Minos, Solon und Lykurg knüpft, drücken zunächst nichts anders aus, als das Festwerden der losen Gewohnheiten und die zum Gesetz erhobene Sitte. Lykurg wollte den Spartanern weder Gesetze noch Sitten geben. Er wollte nichts Neues aus ihnen schaffen, sondern den Stoff, der in ihnen lag, nur ausbilden. Lykurg wollte die Sitten nur erhalten. Seine Gesetze dienten zur Befestigung der Gewohnheiten, sie erhoben die Gewohnheiten selbst zum Gesetz. Alle Staaten, wo ein solches Verfahren möglich ist, werden eine kräftige Dauer verheißen und sich mit Energie in die Annalen der Geschichte schreiben. So ging auch bei den Römern Gesetz und Sitte Hand in Hand und erst in spätern Jahren des Verfalls, wo die Sitten erschlafft waren, wo die naturgemäße oder ererbte Gewohnheit ihre Heiligkeit verloren hatte, tauchten Gesetzgebungen auf, welche nur um ihrer selbst willen da zu seyn schienen und die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0017" n="15"/> in der Beherrschung der Leidenschaft, in einem Benehmen, das nichts <hi rendition="#g">Auffallendes</hi> haben darf.</p> <p>Wir werden, um die große Sittenveränderung zu verstehen, welche sich im Laufe der Jahrhunderte hat entwickeln können, einen Schritt weiter kommen, wenn wir dem Zusammenhang der Sitte mit dem Gesetze nachspüren. Folgen die Gesetze den Sitten? Ja. Folgen die Sitten den Gesetzen? Nein.</p> <p>Wenn ein Volk viel Sitten hat, so braucht es nur wenig Gesetze. Fast alle alten Gesetzgebungen, die man an die Namen <hi rendition="#g">Minos</hi>, <hi rendition="#g">Solon</hi> und <hi rendition="#g">Lykurg</hi> knüpft, drücken zunächst nichts anders aus, als das Festwerden der losen Gewohnheiten und die zum Gesetz erhobene Sitte. <hi rendition="#g">Lykurg</hi> wollte den Spartanern weder Gesetze noch Sitten geben. Er wollte nichts Neues aus ihnen schaffen, sondern den Stoff, der in ihnen lag, nur ausbilden. <hi rendition="#g">Lykurg</hi> wollte die Sitten nur erhalten. Seine Gesetze dienten zur Befestigung der Gewohnheiten, sie erhoben die Gewohnheiten selbst zum Gesetz. Alle Staaten, wo ein solches Verfahren möglich ist, werden eine kräftige Dauer verheißen und sich mit Energie in die Annalen der Geschichte schreiben. So ging auch bei den Römern Gesetz und Sitte Hand in Hand und erst in spätern Jahren des Verfalls, wo die Sitten erschlafft waren, wo die naturgemäße oder ererbte Gewohnheit ihre Heiligkeit verloren hatte, tauchten Gesetzgebungen auf, welche nur um ihrer selbst willen da zu seyn schienen und die </p> </div> </body> </text> </TEI> [15/0017]
in der Beherrschung der Leidenschaft, in einem Benehmen, das nichts Auffallendes haben darf.
Wir werden, um die große Sittenveränderung zu verstehen, welche sich im Laufe der Jahrhunderte hat entwickeln können, einen Schritt weiter kommen, wenn wir dem Zusammenhang der Sitte mit dem Gesetze nachspüren. Folgen die Gesetze den Sitten? Ja. Folgen die Sitten den Gesetzen? Nein.
Wenn ein Volk viel Sitten hat, so braucht es nur wenig Gesetze. Fast alle alten Gesetzgebungen, die man an die Namen Minos, Solon und Lykurg knüpft, drücken zunächst nichts anders aus, als das Festwerden der losen Gewohnheiten und die zum Gesetz erhobene Sitte. Lykurg wollte den Spartanern weder Gesetze noch Sitten geben. Er wollte nichts Neues aus ihnen schaffen, sondern den Stoff, der in ihnen lag, nur ausbilden. Lykurg wollte die Sitten nur erhalten. Seine Gesetze dienten zur Befestigung der Gewohnheiten, sie erhoben die Gewohnheiten selbst zum Gesetz. Alle Staaten, wo ein solches Verfahren möglich ist, werden eine kräftige Dauer verheißen und sich mit Energie in die Annalen der Geschichte schreiben. So ging auch bei den Römern Gesetz und Sitte Hand in Hand und erst in spätern Jahren des Verfalls, wo die Sitten erschlafft waren, wo die naturgemäße oder ererbte Gewohnheit ihre Heiligkeit verloren hatte, tauchten Gesetzgebungen auf, welche nur um ihrer selbst willen da zu seyn schienen und die
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/17>, abgerufen am 27.07.2024. |