Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Blausäure verhältnißmäßig die Kartoffel enthält, man weiß, daß sie stimulirende Kräfte hat, welche auf das Malthus'sche Schreckbild vermehrend einwirken. Mit der steigenden Zahl der Kinder vermindert sich die Pflege derselben. Durch die Kartoffel wurden sie geboren, durch die Kartoffel werden sie sterben. Aus den Scropheln winseln sie sich heraus, in hundert Uebel, die die Folge derselben sind, hinein. Man vergesse diese Thatsache des Siechthums nicht, und wenn wir die sublimsten Jdeen unsrer Zeit zergliedern! Sie folgt überall hin dem Geiste des Jahrhunderts nach, ja sie gibt ihm ein besonderes Gepräge, sie steigert ihn sogar. Denn je unzuverlässiger der Leib ist, desto mehr strebt die Seele nach Entschädigung. Das physische und materielle Elend ist längst ein Uebel unsrer materiellen Zustände geworden, nicht blos in dem Sinne, daß es die Leidenschaften aufregte, sondern sogar in dem, daß es sie milderte. Die Revolution und der Pietismus, beides sind die extremen Folgen der im Volke verbreiteten materiellen Unzulänglichkeiten. Die Moral erbaut sich über das, was der Körper anrathet, zuläßt und verbietet. Man kann darin bis zu einem Spiritualismus steigen, wo das Gefühl des Körpers verschwindet. Die Moral der modernen Zeit, die sich von der Religion getrennt hat, wird mehr oder weniger immer von egoistischen Prinzipien ausgehen, weil die Selbstbestimmung die nächste Folge der Bildung war, die die Menschen unsrer Zeiten über ihre angebornen Blausäure verhältnißmäßig die Kartoffel enthält, man weiß, daß sie stimulirende Kräfte hat, welche auf das Malthus’sche Schreckbild vermehrend einwirken. Mit der steigenden Zahl der Kinder vermindert sich die Pflege derselben. Durch die Kartoffel wurden sie geboren, durch die Kartoffel werden sie sterben. Aus den Scropheln winseln sie sich heraus, in hundert Uebel, die die Folge derselben sind, hinein. Man vergesse diese Thatsache des Siechthums nicht, und wenn wir die sublimsten Jdeen unsrer Zeit zergliedern! Sie folgt überall hin dem Geiste des Jahrhunderts nach, ja sie gibt ihm ein besonderes Gepräge, sie steigert ihn sogar. Denn je unzuverlässiger der Leib ist, desto mehr strebt die Seele nach Entschädigung. Das physische und materielle Elend ist längst ein Uebel unsrer materiellen Zustände geworden, nicht blos in dem Sinne, daß es die Leidenschaften aufregte, sondern sogar in dem, daß es sie milderte. Die Revolution und der Pietismus, beides sind die extremen Folgen der im Volke verbreiteten materiellen Unzulänglichkeiten. Die Moral erbaut sich über das, was der Körper anrathet, zuläßt und verbietet. Man kann darin bis zu einem Spiritualismus steigen, wo das Gefühl des Körpers verschwindet. Die Moral der modernen Zeit, die sich von der Religion getrennt hat, wird mehr oder weniger immer von egoistischen Prinzipien ausgehen, weil die Selbstbestimmung die nächste Folge der Bildung war, die die Menschen unsrer Zeiten über ihre angebornen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0084" n="56"/> Blausäure verhältnißmäßig die Kartoffel enthält, man weiß, daß sie stimulirende Kräfte hat, welche auf das Malthus’sche Schreckbild vermehrend einwirken. Mit der steigenden Zahl der Kinder vermindert sich die Pflege derselben. Durch die Kartoffel wurden sie geboren, durch die Kartoffel werden sie sterben. Aus den Scropheln winseln sie sich heraus, in hundert Uebel, die die Folge derselben sind, hinein. Man vergesse diese Thatsache des Siechthums nicht, und wenn wir die sublimsten Jdeen unsrer Zeit zergliedern! Sie folgt überall hin dem Geiste des Jahrhunderts nach, ja sie gibt ihm ein besonderes Gepräge, sie steigert ihn sogar. Denn je unzuverlässiger der Leib ist, desto mehr strebt die Seele nach Entschädigung. Das physische und materielle Elend ist längst ein Uebel unsrer materiellen Zustände geworden, nicht blos in dem Sinne, daß es die Leidenschaften aufregte, sondern sogar in dem, daß es sie milderte. Die Revolution und der Pietismus, beides sind die extremen Folgen der im Volke verbreiteten materiellen Unzulänglichkeiten.</p> <p>Die Moral erbaut sich über das, was der Körper anrathet, zuläßt und verbietet. Man kann darin bis zu einem Spiritualismus steigen, wo das Gefühl des Körpers verschwindet. Die Moral der modernen Zeit, die sich von der Religion getrennt hat, wird mehr oder weniger immer von egoistischen Prinzipien ausgehen, weil die Selbstbestimmung die nächste Folge der Bildung war, die die Menschen unsrer Zeiten über ihre angebornen </p> </div> </body> </text> </TEI> [56/0084]
Blausäure verhältnißmäßig die Kartoffel enthält, man weiß, daß sie stimulirende Kräfte hat, welche auf das Malthus’sche Schreckbild vermehrend einwirken. Mit der steigenden Zahl der Kinder vermindert sich die Pflege derselben. Durch die Kartoffel wurden sie geboren, durch die Kartoffel werden sie sterben. Aus den Scropheln winseln sie sich heraus, in hundert Uebel, die die Folge derselben sind, hinein. Man vergesse diese Thatsache des Siechthums nicht, und wenn wir die sublimsten Jdeen unsrer Zeit zergliedern! Sie folgt überall hin dem Geiste des Jahrhunderts nach, ja sie gibt ihm ein besonderes Gepräge, sie steigert ihn sogar. Denn je unzuverlässiger der Leib ist, desto mehr strebt die Seele nach Entschädigung. Das physische und materielle Elend ist längst ein Uebel unsrer materiellen Zustände geworden, nicht blos in dem Sinne, daß es die Leidenschaften aufregte, sondern sogar in dem, daß es sie milderte. Die Revolution und der Pietismus, beides sind die extremen Folgen der im Volke verbreiteten materiellen Unzulänglichkeiten.
Die Moral erbaut sich über das, was der Körper anrathet, zuläßt und verbietet. Man kann darin bis zu einem Spiritualismus steigen, wo das Gefühl des Körpers verschwindet. Die Moral der modernen Zeit, die sich von der Religion getrennt hat, wird mehr oder weniger immer von egoistischen Prinzipien ausgehen, weil die Selbstbestimmung die nächste Folge der Bildung war, die die Menschen unsrer Zeiten über ihre angebornen
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/84>, abgerufen am 16.02.2025. |