Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.den Moment zu ertragen. Sie windet sich unter dem, was ihr Schmerz und Freude verursachen könnte, und sucht, wie irgend möglich, beiden zu entfliehen. Als sie einen Freund wiedersah, nachdem sie sich Jahre lang gesehnt hatte, lief sie in einen versteckten Winkel des Hauses und zitterte, weil sie nicht die Kraft hatte, den Moment tüchtig und kräftig durchzuempfinden. Jm Schmerze ist sie eben so schwach. Sie jammert nicht: das will ich nicht sagen; aber sie sucht das Ernste wegzuleugnen, sie klammert sich an Etwas an, das zerstreuende Kraft ausüben könnte. Sie ist nicht mitten drin in dem, was sie fühlt; und doch ist sie ein herrliches Geschöpf. Die Erziehung ist hier an Allem Schuld. Die Frauen unsrer Zeit scheinen es zu ahnen, daß so viel Begriffe und heilige Thatsachen von ihren Männern angetastet werden, und haben zu der herrschenden, etwas frivolen sozialen Philosophie ein eigenthümliches Verhältniß. Sie wandeln am Rande eines Abgrundes, ihr weißer Saum flattert am Winde, sie wandeln mit Angst, weil sie den Abgrund ahnen und ihn nicht sehen. Es bemächtigt sich unsrer Frauen oft ein eignes sinniges Nachdenken, welches sie in Strudel hineinreißt, von wo sie nur durch die Liebe oder ihr Temperament wieder herauskommen. Unsre Frauen lieben es, wenn sie begabterer Natur sind, sich mit den Männern in Zweifeln zu ergehen, die all' ihren moralischen Fond aufzehren könnten, wenn nicht die Männer unsers Jahrhunderts den philosophischen Zweifel dem vorangegangenen den Moment zu ertragen. Sie windet sich unter dem, was ihr Schmerz und Freude verursachen könnte, und sucht, wie irgend möglich, beiden zu entfliehen. Als sie einen Freund wiedersah, nachdem sie sich Jahre lang gesehnt hatte, lief sie in einen versteckten Winkel des Hauses und zitterte, weil sie nicht die Kraft hatte, den Moment tüchtig und kräftig durchzuempfinden. Jm Schmerze ist sie eben so schwach. Sie jammert nicht: das will ich nicht sagen; aber sie sucht das Ernste wegzuleugnen, sie klammert sich an Etwas an, das zerstreuende Kraft ausüben könnte. Sie ist nicht mitten drin in dem, was sie fühlt; und doch ist sie ein herrliches Geschöpf. Die Erziehung ist hier an Allem Schuld. Die Frauen unsrer Zeit scheinen es zu ahnen, daß so viel Begriffe und heilige Thatsachen von ihren Männern angetastet werden, und haben zu der herrschenden, etwas frivolen sozialen Philosophie ein eigenthümliches Verhältniß. Sie wandeln am Rande eines Abgrundes, ihr weißer Saum flattert am Winde, sie wandeln mit Angst, weil sie den Abgrund ahnen und ihn nicht sehen. Es bemächtigt sich unsrer Frauen oft ein eignes sinniges Nachdenken, welches sie in Strudel hineinreißt, von wo sie nur durch die Liebe oder ihr Temperament wieder herauskommen. Unsre Frauen lieben es, wenn sie begabterer Natur sind, sich mit den Männern in Zweifeln zu ergehen, die all’ ihren moralischen Fond aufzehren könnten, wenn nicht die Männer unsers Jahrhunderts den philosophischen Zweifel dem vorangegangenen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0080" n="52"/><hi rendition="#g">den Moment zu ertragen</hi>. Sie windet sich unter dem, was ihr Schmerz und Freude verursachen könnte, und sucht, wie irgend möglich, beiden zu entfliehen. Als sie einen Freund wiedersah, nachdem sie sich Jahre lang gesehnt hatte, lief sie in einen versteckten Winkel des Hauses und zitterte, weil sie nicht die Kraft hatte, den Moment tüchtig und kräftig durchzuempfinden. Jm Schmerze ist sie eben so schwach. Sie jammert nicht: das will ich nicht sagen; aber sie sucht das Ernste wegzuleugnen, sie klammert sich an Etwas an, das zerstreuende Kraft ausüben könnte. Sie ist nicht mitten drin in dem, was sie fühlt; und doch ist sie ein herrliches Geschöpf. Die Erziehung ist hier an Allem Schuld.</p> <p>Die Frauen unsrer Zeit scheinen es zu ahnen, daß so viel Begriffe und heilige Thatsachen von ihren Männern angetastet werden, und haben zu der herrschenden, etwas frivolen sozialen Philosophie ein eigenthümliches Verhältniß. Sie wandeln am Rande eines Abgrundes, ihr weißer Saum flattert am Winde, sie wandeln mit Angst, weil sie den Abgrund ahnen und ihn nicht sehen. Es bemächtigt sich unsrer Frauen oft ein eignes sinniges Nachdenken, welches sie in Strudel hineinreißt, von wo sie nur durch die Liebe oder ihr Temperament wieder herauskommen. Unsre Frauen lieben es, wenn sie begabterer Natur sind, sich mit den Männern in Zweifeln zu ergehen, die all’ ihren moralischen Fond aufzehren könnten, wenn nicht die Männer unsers Jahrhunderts den philosophischen Zweifel dem vorangegangenen </p> </div> </body> </text> </TEI> [52/0080]
den Moment zu ertragen. Sie windet sich unter dem, was ihr Schmerz und Freude verursachen könnte, und sucht, wie irgend möglich, beiden zu entfliehen. Als sie einen Freund wiedersah, nachdem sie sich Jahre lang gesehnt hatte, lief sie in einen versteckten Winkel des Hauses und zitterte, weil sie nicht die Kraft hatte, den Moment tüchtig und kräftig durchzuempfinden. Jm Schmerze ist sie eben so schwach. Sie jammert nicht: das will ich nicht sagen; aber sie sucht das Ernste wegzuleugnen, sie klammert sich an Etwas an, das zerstreuende Kraft ausüben könnte. Sie ist nicht mitten drin in dem, was sie fühlt; und doch ist sie ein herrliches Geschöpf. Die Erziehung ist hier an Allem Schuld.
Die Frauen unsrer Zeit scheinen es zu ahnen, daß so viel Begriffe und heilige Thatsachen von ihren Männern angetastet werden, und haben zu der herrschenden, etwas frivolen sozialen Philosophie ein eigenthümliches Verhältniß. Sie wandeln am Rande eines Abgrundes, ihr weißer Saum flattert am Winde, sie wandeln mit Angst, weil sie den Abgrund ahnen und ihn nicht sehen. Es bemächtigt sich unsrer Frauen oft ein eignes sinniges Nachdenken, welches sie in Strudel hineinreißt, von wo sie nur durch die Liebe oder ihr Temperament wieder herauskommen. Unsre Frauen lieben es, wenn sie begabterer Natur sind, sich mit den Männern in Zweifeln zu ergehen, die all’ ihren moralischen Fond aufzehren könnten, wenn nicht die Männer unsers Jahrhunderts den philosophischen Zweifel dem vorangegangenen
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/80>, abgerufen am 27.07.2024. |