Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Wissen sie aber nur dieß, so werden sie jenes niemals lernen. An Erziehungsgemälden, Tugendspiegeln und pädagogischen Sittenpredigten haben alle Literaturen Europa's einen noch immer höher anschwellenden Ueberfluß. Alte Jungfern, die nie einen Mann noch weniger ein Kind hatten, geben Anweisungen über moralische Kinderzucht heraus. Geistliche, deren Kinder in der größten Ungezogenheit fortwuchern, schreiben über die sittliche Veredlung der Jugend beider Geschlechter. Die Erziehung ist ein Utopien, wo die Eltern als die weisesten Regenten und die Kinder als die gehorsamsten Unterthanen gedacht werden. Die Widersprüche der menschlichen Natur beachtet der Jdealist nicht, der aus seinen vier Wänden heraus Völker erziehen will. Er hat ein allgemeines Schema über die Natur der Kinder. Er hält diese Natur für absolut empfänglich, für eine kahle Tafel, auf welche man durch Lehre und Beispiel schreiben könne, was man wolle. Weit entfernt! Die Kinder sind ein so widerspenstiger und zäher Stoff, daß die Beispiele selten sind, wo sie das werden, was die Eltern erwartet oder gewünscht hätten. An einem schönen Morgen werfen die allmählig erwachsenen Kinder plötzlich zum größten Erstaunen der Erzieher die Hülle ab, welche bisher ihre Eigenthümlichkeit verschloß. Der Schlummerkopf wird ein Schelm, der Ausbund ein Hannes, der sich nicht zu benehmen weiß. Eine Dame klagte mir vor längerer Zeit, daß sie die unglücklichste Frau von der Welt wäre. Wissen sie aber nur dieß, so werden sie jenes niemals lernen. An Erziehungsgemälden, Tugendspiegeln und pädagogischen Sittenpredigten haben alle Literaturen Europa’s einen noch immer höher anschwellenden Ueberfluß. Alte Jungfern, die nie einen Mann noch weniger ein Kind hatten, geben Anweisungen über moralische Kinderzucht heraus. Geistliche, deren Kinder in der größten Ungezogenheit fortwuchern, schreiben über die sittliche Veredlung der Jugend beider Geschlechter. Die Erziehung ist ein Utopien, wo die Eltern als die weisesten Regenten und die Kinder als die gehorsamsten Unterthanen gedacht werden. Die Widersprüche der menschlichen Natur beachtet der Jdealist nicht, der aus seinen vier Wänden heraus Völker erziehen will. Er hat ein allgemeines Schema über die Natur der Kinder. Er hält diese Natur für absolut empfänglich, für eine kahle Tafel, auf welche man durch Lehre und Beispiel schreiben könne, was man wolle. Weit entfernt! Die Kinder sind ein so widerspenstiger und zäher Stoff, daß die Beispiele selten sind, wo sie das werden, was die Eltern erwartet oder gewünscht hätten. An einem schönen Morgen werfen die allmählig erwachsenen Kinder plötzlich zum größten Erstaunen der Erzieher die Hülle ab, welche bisher ihre Eigenthümlichkeit verschloß. Der Schlummerkopf wird ein Schelm, der Ausbund ein Hannes, der sich nicht zu benehmen weiß. Eine Dame klagte mir vor längerer Zeit, daß sie die unglücklichste Frau von der Welt wäre. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0430" n="402"/> Wissen sie aber <hi rendition="#g">nur</hi> dieß, so werden sie jenes niemals lernen.</p> <p>An Erziehungsgemälden, Tugendspiegeln und pädagogischen Sittenpredigten haben alle Literaturen Europa’s einen noch immer höher anschwellenden Ueberfluß. Alte Jungfern, die nie einen Mann noch weniger ein Kind hatten, geben Anweisungen über moralische Kinderzucht heraus. Geistliche, deren Kinder in der größten Ungezogenheit fortwuchern, schreiben über die sittliche Veredlung der Jugend beider Geschlechter. Die Erziehung ist ein Utopien, wo die Eltern als die weisesten Regenten und die Kinder als die gehorsamsten Unterthanen gedacht werden. Die Widersprüche der menschlichen Natur beachtet der Jdealist nicht, der aus seinen vier Wänden heraus Völker erziehen will. Er hat ein allgemeines Schema über die Natur der Kinder. Er hält diese Natur für absolut empfänglich, für eine kahle Tafel, auf welche man durch Lehre und Beispiel schreiben könne, was man wolle. Weit entfernt! Die Kinder sind ein so widerspenstiger und zäher Stoff, daß die Beispiele selten sind, wo sie das werden, was die Eltern erwartet oder gewünscht hätten. An einem schönen Morgen werfen die allmählig erwachsenen Kinder plötzlich zum größten Erstaunen der Erzieher die Hülle ab, welche bisher ihre Eigenthümlichkeit verschloß. Der Schlummerkopf wird ein Schelm, der Ausbund ein Hannes, der sich nicht zu benehmen weiß. Eine Dame klagte mir vor längerer Zeit, daß sie die unglücklichste Frau von der Welt wäre. </p> </div> </body> </text> </TEI> [402/0430]
Wissen sie aber nur dieß, so werden sie jenes niemals lernen.
An Erziehungsgemälden, Tugendspiegeln und pädagogischen Sittenpredigten haben alle Literaturen Europa’s einen noch immer höher anschwellenden Ueberfluß. Alte Jungfern, die nie einen Mann noch weniger ein Kind hatten, geben Anweisungen über moralische Kinderzucht heraus. Geistliche, deren Kinder in der größten Ungezogenheit fortwuchern, schreiben über die sittliche Veredlung der Jugend beider Geschlechter. Die Erziehung ist ein Utopien, wo die Eltern als die weisesten Regenten und die Kinder als die gehorsamsten Unterthanen gedacht werden. Die Widersprüche der menschlichen Natur beachtet der Jdealist nicht, der aus seinen vier Wänden heraus Völker erziehen will. Er hat ein allgemeines Schema über die Natur der Kinder. Er hält diese Natur für absolut empfänglich, für eine kahle Tafel, auf welche man durch Lehre und Beispiel schreiben könne, was man wolle. Weit entfernt! Die Kinder sind ein so widerspenstiger und zäher Stoff, daß die Beispiele selten sind, wo sie das werden, was die Eltern erwartet oder gewünscht hätten. An einem schönen Morgen werfen die allmählig erwachsenen Kinder plötzlich zum größten Erstaunen der Erzieher die Hülle ab, welche bisher ihre Eigenthümlichkeit verschloß. Der Schlummerkopf wird ein Schelm, der Ausbund ein Hannes, der sich nicht zu benehmen weiß. Eine Dame klagte mir vor längerer Zeit, daß sie die unglücklichste Frau von der Welt wäre.
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/430>, abgerufen am 28.07.2024. |