Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.dabei, was das achtzehnte Jahrhundert hintertrieb, sein eignes struppiges, rauhes und hinlänglich anstößiges Wesen. Es ist eine so große pädagogische Unachtsamkeit eingerissen, daß es wahrlich ein Glück ist, wenn sich das durchaus verdächtige, vernachlässigte, kein soziales Vertrauen erweckende Jndividuum dem Allgemeinen fügen und sich unter der drängenden und stoßenden Masse auf dem Markte des Lebens seine Kanten abschleifen lassen muß. Wollen wir Emils weitre Entwickelung verfolgen, so müssen wir das Haus verlassen und eine Pension oder die Schule besuchen. Emil wird hier nicht der Erziehung, sondern des Unterrichts wegen hergebracht; denn die Anforderungen an den Einzelnen, der Bildung zu haben später vorgeben will, sind so ungeheuer, daß man in seinem fünften Jahre schon muß lesen können, um nur im achtzehnten Jahre so weit zu seyn, daß man wenigstens eine alte und sechs neuere Sprachen versteht, alle complicirten Fragen der Fachwissenschaften als Vorkenntnisse besitzt, um dann erst wieder etwas Neues zu lernen, was sich gar nicht beschreiben läßt, da es alle Tage durch jede neue Erfindung vermehrt wird. Glücklicherweise haben die Pädagogen, welche man nicht mehr über die Seele der Kinder um Rath frägt, ihre Muße dazu benutzt, allerhand Kunststücke zu ersinnen, welche das Lernen erleichtern. Man hat es möglich gemacht, daß Kinder, die noch nicht sprechen können, doch schon anfangen, lesen zu lernen, durch eine ganz dabei, was das achtzehnte Jahrhundert hintertrieb, sein eignes struppiges, rauhes und hinlänglich anstößiges Wesen. Es ist eine so große pädagogische Unachtsamkeit eingerissen, daß es wahrlich ein Glück ist, wenn sich das durchaus verdächtige, vernachlässigte, kein soziales Vertrauen erweckende Jndividuum dem Allgemeinen fügen und sich unter der drängenden und stoßenden Masse auf dem Markte des Lebens seine Kanten abschleifen lassen muß. Wollen wir Emils weitre Entwickelung verfolgen, so müssen wir das Haus verlassen und eine Pension oder die Schule besuchen. Emil wird hier nicht der Erziehung, sondern des Unterrichts wegen hergebracht; denn die Anforderungen an den Einzelnen, der Bildung zu haben später vorgeben will, sind so ungeheuer, daß man in seinem fünften Jahre schon muß lesen können, um nur im achtzehnten Jahre so weit zu seyn, daß man wenigstens eine alte und sechs neuere Sprachen versteht, alle complicirten Fragen der Fachwissenschaften als Vorkenntnisse besitzt, um dann erst wieder etwas Neues zu lernen, was sich gar nicht beschreiben läßt, da es alle Tage durch jede neue Erfindung vermehrt wird. Glücklicherweise haben die Pädagogen, welche man nicht mehr über die Seele der Kinder um Rath frägt, ihre Muße dazu benutzt, allerhand Kunststücke zu ersinnen, welche das Lernen erleichtern. Man hat es möglich gemacht, daß Kinder, die noch nicht sprechen können, doch schon anfangen, lesen zu lernen, durch eine ganz <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0042" n="14"/> dabei, was das achtzehnte Jahrhundert hintertrieb, sein eignes struppiges, rauhes und hinlänglich anstößiges Wesen. Es ist eine so große pädagogische Unachtsamkeit eingerissen, daß es wahrlich ein Glück ist, wenn sich das durchaus verdächtige, vernachlässigte, kein soziales Vertrauen erweckende Jndividuum dem Allgemeinen fügen und sich unter der drängenden und stoßenden Masse auf dem Markte des Lebens seine Kanten abschleifen lassen muß.</p> <p>Wollen wir Emils weitre Entwickelung verfolgen, so müssen wir das Haus verlassen und eine Pension oder die Schule besuchen. Emil wird hier nicht der Erziehung, sondern des Unterrichts wegen hergebracht; denn die Anforderungen an den Einzelnen, der Bildung zu haben später vorgeben will, sind so ungeheuer, daß man in seinem fünften Jahre schon muß lesen können, um nur im achtzehnten Jahre so weit zu seyn, daß man wenigstens eine alte und sechs neuere Sprachen versteht, alle complicirten Fragen der Fachwissenschaften als <hi rendition="#g">Vorkenntnisse</hi> besitzt, um dann erst wieder etwas Neues zu lernen, was sich gar nicht beschreiben läßt, da es alle Tage durch jede neue Erfindung vermehrt wird. Glücklicherweise haben die Pädagogen, welche man nicht mehr über die Seele der Kinder um Rath frägt, ihre Muße dazu benutzt, allerhand Kunststücke zu ersinnen, welche das Lernen erleichtern. Man hat es möglich gemacht, daß Kinder, die noch nicht sprechen können, doch schon anfangen, lesen zu lernen, durch eine ganz </p> </div> </body> </text> </TEI> [14/0042]
dabei, was das achtzehnte Jahrhundert hintertrieb, sein eignes struppiges, rauhes und hinlänglich anstößiges Wesen. Es ist eine so große pädagogische Unachtsamkeit eingerissen, daß es wahrlich ein Glück ist, wenn sich das durchaus verdächtige, vernachlässigte, kein soziales Vertrauen erweckende Jndividuum dem Allgemeinen fügen und sich unter der drängenden und stoßenden Masse auf dem Markte des Lebens seine Kanten abschleifen lassen muß.
Wollen wir Emils weitre Entwickelung verfolgen, so müssen wir das Haus verlassen und eine Pension oder die Schule besuchen. Emil wird hier nicht der Erziehung, sondern des Unterrichts wegen hergebracht; denn die Anforderungen an den Einzelnen, der Bildung zu haben später vorgeben will, sind so ungeheuer, daß man in seinem fünften Jahre schon muß lesen können, um nur im achtzehnten Jahre so weit zu seyn, daß man wenigstens eine alte und sechs neuere Sprachen versteht, alle complicirten Fragen der Fachwissenschaften als Vorkenntnisse besitzt, um dann erst wieder etwas Neues zu lernen, was sich gar nicht beschreiben läßt, da es alle Tage durch jede neue Erfindung vermehrt wird. Glücklicherweise haben die Pädagogen, welche man nicht mehr über die Seele der Kinder um Rath frägt, ihre Muße dazu benutzt, allerhand Kunststücke zu ersinnen, welche das Lernen erleichtern. Man hat es möglich gemacht, daß Kinder, die noch nicht sprechen können, doch schon anfangen, lesen zu lernen, durch eine ganz
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/42>, abgerufen am 05.07.2024. |