Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

Bild:
<< vorherige Seite

Sprache hat etwas Schonungsloses, ihre Gesichtsmienen zittern, wenn sie etwas erwartet, das gesagt oder gethan werden soll. Kurz sie ist in einer fortwährenden Aufregung. Die Stunden in den Schulen (sie bedient ihrer drei) dienen nur dazu, daß dasjenige fortgesetzt wird, was im Thee des vergangenen Abends abgebrochen wurde. Schülerin und Lehrerin, beide geizen nach dem Momente, wo der Lehrgegenstand einen Uebergang auf familiäre Discussionen zuläßt. Dieß Treiben ist nicht ohne Gefahr. Hundert Reklamationen erfolgen in einer Woche. Hier ist eine üble Nachrede gehört worden, dort vermuthet man die Quelle, man wälzt Verdächtigungen von sich auf Andere, man hat etwas gesagt, etwas wiederholt, es gibt Untersuchungen, Confrontationen, anonyme Billets, tausend Verwirrungen, denen nur noch fehlte, daß sich die Polizei einmischte. Miß Livia ist unter dieser geistigen Aufgeregtheit früh verblüht. Sie muß Toilettenmittel brauchen, um ihre Reize frisch zu erhalten. Frauen werden unter diesen Verhältnissen nur noch heftiger in ihren Leidenschaften und Jntriguen. Miß Livia ist so verstrickt in Lügen- und Jntriguengewebe, daß sie oft Krämpfe bekömmt oder wenigstens in verstellte Ohnmachten fällt. Wie oft ruft sie nicht aus: So soll mich Gott um die ewige Seligkeit bringen, wenn ich das gesagt habe! Aber man kann gewiß seyn, daß, wenn von einer Verläumdung die Rede ist, sie sie immer gesagt hat. Sie zählt unter den Männern eben so viele Widersacher, wie unter den

Sprache hat etwas Schonungsloses, ihre Gesichtsmienen zittern, wenn sie etwas erwartet, das gesagt oder gethan werden soll. Kurz sie ist in einer fortwährenden Aufregung. Die Stunden in den Schulen (sie bedient ihrer drei) dienen nur dazu, daß dasjenige fortgesetzt wird, was im Thee des vergangenen Abends abgebrochen wurde. Schülerin und Lehrerin, beide geizen nach dem Momente, wo der Lehrgegenstand einen Uebergang auf familiäre Discussionen zuläßt. Dieß Treiben ist nicht ohne Gefahr. Hundert Reklamationen erfolgen in einer Woche. Hier ist eine üble Nachrede gehört worden, dort vermuthet man die Quelle, man wälzt Verdächtigungen von sich auf Andere, man hat etwas gesagt, etwas wiederholt, es gibt Untersuchungen, Confrontationen, anonyme Billets, tausend Verwirrungen, denen nur noch fehlte, daß sich die Polizei einmischte. Miß Livia ist unter dieser geistigen Aufgeregtheit früh verblüht. Sie muß Toilettenmittel brauchen, um ihre Reize frisch zu erhalten. Frauen werden unter diesen Verhältnissen nur noch heftiger in ihren Leidenschaften und Jntriguen. Miß Livia ist so verstrickt in Lügen- und Jntriguengewebe, daß sie oft Krämpfe bekömmt oder wenigstens in verstellte Ohnmachten fällt. Wie oft ruft sie nicht aus: So soll mich Gott um die ewige Seligkeit bringen, wenn ich das gesagt habe! Aber man kann gewiß seyn, daß, wenn von einer Verläumdung die Rede ist, sie sie immer gesagt hat. Sie zählt unter den Männern eben so viele Widersacher, wie unter den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0403" n="375"/>
Sprache hat etwas Schonungsloses, ihre Gesichtsmienen zittern, wenn sie etwas erwartet, das gesagt oder gethan werden soll. Kurz sie ist in einer fortwährenden Aufregung. Die Stunden in den Schulen (sie bedient ihrer drei) dienen nur dazu, daß dasjenige fortgesetzt wird, was im Thee des vergangenen Abends abgebrochen wurde. Schülerin und Lehrerin, beide geizen nach dem Momente, wo der Lehrgegenstand einen Uebergang auf familiäre Discussionen zuläßt. Dieß Treiben ist nicht ohne Gefahr. Hundert Reklamationen erfolgen in einer Woche. Hier ist eine üble Nachrede gehört worden, dort vermuthet man die Quelle, man wälzt Verdächtigungen von sich auf Andere, man hat etwas gesagt, etwas wiederholt, es gibt Untersuchungen, Confrontationen, anonyme Billets, tausend Verwirrungen, denen nur noch fehlte, daß sich die Polizei einmischte. Miß Livia ist unter dieser geistigen Aufgeregtheit früh verblüht. Sie muß Toilettenmittel brauchen, um ihre Reize frisch zu erhalten. Frauen werden unter diesen Verhältnissen nur noch heftiger in ihren Leidenschaften und Jntriguen. Miß Livia ist so verstrickt in Lügen- und Jntriguengewebe, daß sie oft Krämpfe bekömmt oder wenigstens in verstellte Ohnmachten fällt. Wie oft ruft sie nicht aus: So soll mich Gott um die ewige Seligkeit bringen, wenn ich das gesagt habe! Aber man kann gewiß seyn, daß, wenn von einer Verläumdung die Rede ist, sie sie immer gesagt hat. Sie zählt unter den Männern eben so viele Widersacher, wie unter den
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[375/0403] Sprache hat etwas Schonungsloses, ihre Gesichtsmienen zittern, wenn sie etwas erwartet, das gesagt oder gethan werden soll. Kurz sie ist in einer fortwährenden Aufregung. Die Stunden in den Schulen (sie bedient ihrer drei) dienen nur dazu, daß dasjenige fortgesetzt wird, was im Thee des vergangenen Abends abgebrochen wurde. Schülerin und Lehrerin, beide geizen nach dem Momente, wo der Lehrgegenstand einen Uebergang auf familiäre Discussionen zuläßt. Dieß Treiben ist nicht ohne Gefahr. Hundert Reklamationen erfolgen in einer Woche. Hier ist eine üble Nachrede gehört worden, dort vermuthet man die Quelle, man wälzt Verdächtigungen von sich auf Andere, man hat etwas gesagt, etwas wiederholt, es gibt Untersuchungen, Confrontationen, anonyme Billets, tausend Verwirrungen, denen nur noch fehlte, daß sich die Polizei einmischte. Miß Livia ist unter dieser geistigen Aufgeregtheit früh verblüht. Sie muß Toilettenmittel brauchen, um ihre Reize frisch zu erhalten. Frauen werden unter diesen Verhältnissen nur noch heftiger in ihren Leidenschaften und Jntriguen. Miß Livia ist so verstrickt in Lügen- und Jntriguengewebe, daß sie oft Krämpfe bekömmt oder wenigstens in verstellte Ohnmachten fällt. Wie oft ruft sie nicht aus: So soll mich Gott um die ewige Seligkeit bringen, wenn ich das gesagt habe! Aber man kann gewiß seyn, daß, wenn von einer Verläumdung die Rede ist, sie sie immer gesagt hat. Sie zählt unter den Männern eben so viele Widersacher, wie unter den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-09-13T12:39:16Z)
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-09-13T12:39:16Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/403
Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/403>, abgerufen am 22.11.2024.