Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.mit Klaglauten angefüllt ist und statt Handlung überhaupt nur Schicksal vorstellt, das wäre nicht modern. Näher steht schon das Shakespearische Drama, das romantische. Das moderne Zeitalter hat den Ruhm, die Romantik erst richtig begriffen zu haben. Dieß macht denn wohl, daß eine moderne Tragödie mehr von Skakespeare, als von Sophokles entlehnen würde. Dennoch gibt es eine speziell moderne Tragödie, in der Form, wie im Jnhalt. Schiller, Göthe, Byron haben Tragödien geschrieben, wenn auch sie noch mehr in philologischen und ästhetischen Vorurtheilen befangen gewesen seyn mögen. Sie bahnten den Weg zu einer entschiedenen Betrachtung der menschlichen Schicksale und zu einer Form, die den Verwickelungen und plötzlichen Schlägen unsres jetzigen Lebens durch eben so schroffe und überraschende Eigenschaften entgegenkömmt, zu einer Form, die im Allgemeinen in den Dramen der Pariser Schauspiele noch fratzenhaft karrikirt auftritt, allmählich aber zu einer schönen und heitern Rundung sich ausbilden dürfte. Poetische Combinationen neuerer Zustände in natürlicher und origineller Sprache nennen wir moderne Poesie. Dieß ist ein Begriff, der sich allmählich aller europäischen Literatur bemächtigt hat und sich hoffentlich zu einer unsrer Zeit beschiedenen und sehr nöthigen größeren Kunstentfaltung ausbilden wird. Neben antike und mittelalterliche Baukunst die moderne zu stellen, ist schon bei Weitem schwieriger; denn würde sie Alles seyn sollen, was nicht Antike und nicht mit Klaglauten angefüllt ist und statt Handlung überhaupt nur Schicksal vorstellt, das wäre nicht modern. Näher steht schon das Shakespearische Drama, das romantische. Das moderne Zeitalter hat den Ruhm, die Romantik erst richtig begriffen zu haben. Dieß macht denn wohl, daß eine moderne Tragödie mehr von Skakespeare, als von Sophokles entlehnen würde. Dennoch gibt es eine speziell moderne Tragödie, in der Form, wie im Jnhalt. Schiller, Göthe, Byron haben Tragödien geschrieben, wenn auch sie noch mehr in philologischen und ästhetischen Vorurtheilen befangen gewesen seyn mögen. Sie bahnten den Weg zu einer entschiedenen Betrachtung der menschlichen Schicksale und zu einer Form, die den Verwickelungen und plötzlichen Schlägen unsres jetzigen Lebens durch eben so schroffe und überraschende Eigenschaften entgegenkömmt, zu einer Form, die im Allgemeinen in den Dramen der Pariser Schauspiele noch fratzenhaft karrikirt auftritt, allmählich aber zu einer schönen und heitern Rundung sich ausbilden dürfte. Poetische Combinationen neuerer Zustände in natürlicher und origineller Sprache nennen wir moderne Poesie. Dieß ist ein Begriff, der sich allmählich aller europäischen Literatur bemächtigt hat und sich hoffentlich zu einer unsrer Zeit beschiedenen und sehr nöthigen größeren Kunstentfaltung ausbilden wird. Neben antike und mittelalterliche Baukunst die moderne zu stellen, ist schon bei Weitem schwieriger; denn würde sie Alles seyn sollen, was nicht Antike und nicht <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0184" n="156"/> mit Klaglauten angefüllt ist und statt Handlung überhaupt nur Schicksal vorstellt, das wäre nicht modern. Näher steht schon das Shakespearische Drama, das romantische. Das moderne Zeitalter hat den Ruhm, die Romantik erst richtig begriffen zu haben. Dieß macht denn wohl, daß eine moderne Tragödie mehr von Skakespeare, als von Sophokles entlehnen würde. Dennoch gibt es eine speziell moderne Tragödie, in der Form, wie im Jnhalt. Schiller, Göthe, Byron haben Tragödien geschrieben, wenn auch sie noch mehr in philologischen und ästhetischen Vorurtheilen befangen gewesen seyn mögen. Sie bahnten den Weg zu einer entschiedenen Betrachtung der menschlichen Schicksale und zu einer Form, die den Verwickelungen und plötzlichen Schlägen unsres jetzigen Lebens durch eben so schroffe und überraschende Eigenschaften entgegenkömmt, zu einer Form, die im Allgemeinen in den Dramen der Pariser Schauspiele noch fratzenhaft karrikirt auftritt, allmählich aber zu einer schönen und heitern Rundung sich ausbilden dürfte. Poetische Combinationen neuerer Zustände in natürlicher und origineller Sprache nennen wir moderne Poesie. Dieß ist ein Begriff, der sich allmählich aller europäischen Literatur bemächtigt hat und sich hoffentlich zu einer unsrer Zeit beschiedenen und sehr nöthigen größeren Kunstentfaltung ausbilden wird.</p> <p>Neben antike und mittelalterliche Baukunst die moderne zu stellen, ist schon bei Weitem schwieriger; denn würde sie Alles seyn sollen, was nicht Antike und nicht </p> </div> </body> </text> </TEI> [156/0184]
mit Klaglauten angefüllt ist und statt Handlung überhaupt nur Schicksal vorstellt, das wäre nicht modern. Näher steht schon das Shakespearische Drama, das romantische. Das moderne Zeitalter hat den Ruhm, die Romantik erst richtig begriffen zu haben. Dieß macht denn wohl, daß eine moderne Tragödie mehr von Skakespeare, als von Sophokles entlehnen würde. Dennoch gibt es eine speziell moderne Tragödie, in der Form, wie im Jnhalt. Schiller, Göthe, Byron haben Tragödien geschrieben, wenn auch sie noch mehr in philologischen und ästhetischen Vorurtheilen befangen gewesen seyn mögen. Sie bahnten den Weg zu einer entschiedenen Betrachtung der menschlichen Schicksale und zu einer Form, die den Verwickelungen und plötzlichen Schlägen unsres jetzigen Lebens durch eben so schroffe und überraschende Eigenschaften entgegenkömmt, zu einer Form, die im Allgemeinen in den Dramen der Pariser Schauspiele noch fratzenhaft karrikirt auftritt, allmählich aber zu einer schönen und heitern Rundung sich ausbilden dürfte. Poetische Combinationen neuerer Zustände in natürlicher und origineller Sprache nennen wir moderne Poesie. Dieß ist ein Begriff, der sich allmählich aller europäischen Literatur bemächtigt hat und sich hoffentlich zu einer unsrer Zeit beschiedenen und sehr nöthigen größeren Kunstentfaltung ausbilden wird.
Neben antike und mittelalterliche Baukunst die moderne zu stellen, ist schon bei Weitem schwieriger; denn würde sie Alles seyn sollen, was nicht Antike und nicht
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/184>, abgerufen am 28.07.2024. |