Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.und in einem gewissen Betracht darum unpoetischer geworden. Oder ist vielleicht die Poesie unsrer Zeiten anders motivirt, als ehemals? Napoleon stürzt, der Bellerophon trägt ihn über die schwankende See, ein weitentlegenes Eiland trennt ihn auf ewig vom Schauplatze seines Ruhmes; Napoleon auf St. Helena wird eine Ursache der allgemeinen Verwünschung Englands, ja England selbst stimmt in den Ausbruch einer Theilnahme ein, die mit dem frühern Haß seltsam kontrastirte. Er wird der Held der Dichtkunst, gepriesen wie der größte Wohlthäter der Menschheit, er war der Gefährlichste unter den Menschen und wird nun ihr Größter genannt. Merkwürdige Umkehr! Man kann nicht sagen, daß hier allein die Großmuth obwaltete, und daß man einem Löwen, dem die Tatzen beschnitten waren, vergeben konnte; dieß wäre ein Gefühl gewesen, das den Fürsten und ihren Rathgebern gut gestanden hätte. Das Volk übte eine andere Gerechtigkeit, die poetische. Es sah nicht einmal mehr den Gefangenen in Napoleon, sondern nur noch den Todten. Die Täuschungen, welche die Folge der gegen Frankreich gerichtet gewesenen Kämpfe waren, die Täuschungen, welche Frankreich sich selbst gestehen mußte, ließen das Unrecht Napoleons vergessen, man legte seiner Erscheinung eine höhere Bedeutung bei und trug sich, wie bei Christi Tode, noch lange Jahre mit seiner Wiederkunft. Bei Varna und Adrianopel im Russenkriege wollte man einen untersetzten Mann und in einem gewissen Betracht darum unpoetischer geworden. Oder ist vielleicht die Poesie unsrer Zeiten anders motivirt, als ehemals? Napoleon stürzt, der Bellerophon trägt ihn über die schwankende See, ein weitentlegenes Eiland trennt ihn auf ewig vom Schauplatze seines Ruhmes; Napoleon auf St. Helena wird eine Ursache der allgemeinen Verwünschung Englands, ja England selbst stimmt in den Ausbruch einer Theilnahme ein, die mit dem frühern Haß seltsam kontrastirte. Er wird der Held der Dichtkunst, gepriesen wie der größte Wohlthäter der Menschheit, er war der Gefährlichste unter den Menschen und wird nun ihr Größter genannt. Merkwürdige Umkehr! Man kann nicht sagen, daß hier allein die Großmuth obwaltete, und daß man einem Löwen, dem die Tatzen beschnitten waren, vergeben konnte; dieß wäre ein Gefühl gewesen, das den Fürsten und ihren Rathgebern gut gestanden hätte. Das Volk übte eine andere Gerechtigkeit, die poetische. Es sah nicht einmal mehr den Gefangenen in Napoleon, sondern nur noch den Todten. Die Täuschungen, welche die Folge der gegen Frankreich gerichtet gewesenen Kämpfe waren, die Täuschungen, welche Frankreich sich selbst gestehen mußte, ließen das Unrecht Napoleons vergessen, man legte seiner Erscheinung eine höhere Bedeutung bei und trug sich, wie bei Christi Tode, noch lange Jahre mit seiner Wiederkunft. Bei Varna und Adrianopel im Russenkriege wollte man einen untersetzten Mann <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0112" n="84"/> und in einem gewissen Betracht darum unpoetischer geworden.</p> <p>Oder ist vielleicht die Poesie unsrer Zeiten anders motivirt, als ehemals? Napoleon stürzt, der Bellerophon trägt ihn über die schwankende See, ein weitentlegenes Eiland trennt ihn auf ewig vom Schauplatze seines Ruhmes; Napoleon auf St. Helena wird eine Ursache der allgemeinen Verwünschung Englands, ja England selbst stimmt in den Ausbruch einer Theilnahme ein, die mit dem frühern Haß seltsam kontrastirte. Er wird der Held der Dichtkunst, gepriesen wie der größte Wohlthäter der Menschheit, er war der Gefährlichste unter den Menschen und wird nun ihr Größter genannt. Merkwürdige Umkehr! Man kann nicht sagen, daß hier allein die Großmuth obwaltete, und daß man einem Löwen, dem die Tatzen beschnitten waren, vergeben konnte; dieß wäre ein Gefühl gewesen, das den Fürsten und ihren Rathgebern gut gestanden hätte. Das Volk übte eine andere Gerechtigkeit, die poetische. Es sah nicht einmal mehr den Gefangenen in Napoleon, sondern nur noch den Todten. Die Täuschungen, welche die Folge der gegen Frankreich gerichtet gewesenen Kämpfe waren, die Täuschungen, welche Frankreich sich selbst gestehen mußte, ließen das Unrecht Napoleons vergessen, man legte seiner Erscheinung eine höhere Bedeutung bei und trug sich, wie bei Christi Tode, noch lange Jahre mit seiner Wiederkunft. Bei Varna und Adrianopel im Russenkriege wollte man einen untersetzten Mann </p> </div> </body> </text> </TEI> [84/0112]
und in einem gewissen Betracht darum unpoetischer geworden.
Oder ist vielleicht die Poesie unsrer Zeiten anders motivirt, als ehemals? Napoleon stürzt, der Bellerophon trägt ihn über die schwankende See, ein weitentlegenes Eiland trennt ihn auf ewig vom Schauplatze seines Ruhmes; Napoleon auf St. Helena wird eine Ursache der allgemeinen Verwünschung Englands, ja England selbst stimmt in den Ausbruch einer Theilnahme ein, die mit dem frühern Haß seltsam kontrastirte. Er wird der Held der Dichtkunst, gepriesen wie der größte Wohlthäter der Menschheit, er war der Gefährlichste unter den Menschen und wird nun ihr Größter genannt. Merkwürdige Umkehr! Man kann nicht sagen, daß hier allein die Großmuth obwaltete, und daß man einem Löwen, dem die Tatzen beschnitten waren, vergeben konnte; dieß wäre ein Gefühl gewesen, das den Fürsten und ihren Rathgebern gut gestanden hätte. Das Volk übte eine andere Gerechtigkeit, die poetische. Es sah nicht einmal mehr den Gefangenen in Napoleon, sondern nur noch den Todten. Die Täuschungen, welche die Folge der gegen Frankreich gerichtet gewesenen Kämpfe waren, die Täuschungen, welche Frankreich sich selbst gestehen mußte, ließen das Unrecht Napoleons vergessen, man legte seiner Erscheinung eine höhere Bedeutung bei und trug sich, wie bei Christi Tode, noch lange Jahre mit seiner Wiederkunft. Bei Varna und Adrianopel im Russenkriege wollte man einen untersetzten Mann
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2013-09-13T12:39:16Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2013-09-13T12:39:16Z)
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2013-09-13T12:39:16Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |