Jetzt lag Cäsar zu Wally's Füßen, wahr¬ haftig, ohne Bewußtsein, von einem ungeheuchel¬ ten Gefühle übermannt. Aber was warf ihn nieder? Nicht die Liebe, sondern der Gedanke an eine Humanitätsfrage, die niemanden von euch fremd ist: der Gedanke an jene Augen¬ blicke, wo wir, überdrüssig der conventionellen Formen des Lebens, zu aller Welt herantreten möchten und ihr zurufen: "O warum dies Gehäuse von Manieren, in welches du Spröde dich zurückziehst? Warum diese Verhüllung des Menschen in und an dir? Warum Zurückhal¬ tung, du, mein Bruder, du, meine Schwester, da du doch gleichen Wesens mit mir bist, eine Hand wie ich zum Drucke, einen Mund wie ich zum Kusse hast? Ach, wie seh' ich rings um mich her eine so reife Ernte von Liebe und Schönheit! Warum zögern, bis auf Jahre, daß ich sie breche? Warum nicht das Ent¬ zücken, daß wir alle Menschen sind, schwach und
Jetzt lag Cäſar zu Wally's Füßen, wahr¬ haftig, ohne Bewußtſein, von einem ungeheuchel¬ ten Gefühle übermannt. Aber was warf ihn nieder? Nicht die Liebe, ſondern der Gedanke an eine Humanitätsfrage, die niemanden von euch fremd iſt: der Gedanke an jene Augen¬ blicke, wo wir, überdrüſſig der conventionellen Formen des Lebens, zu aller Welt herantreten möchten und ihr zurufen: „O warum dies Gehäuſe von Manieren, in welches du Spröde dich zurückziehſt? Warum dieſe Verhüllung des Menſchen in und an dir? Warum Zurückhal¬ tung, du, mein Bruder, du, meine Schweſter, da du doch gleichen Weſens mit mir biſt, eine Hand wie ich zum Drucke, einen Mund wie ich zum Kuſſe haſt? Ach, wie ſeh' ich rings um mich her eine ſo reife Ernte von Liebe und Schönheit! Warum zögern, bis auf Jahre, daß ich ſie breche? Warum nicht das Ent¬ zücken, daß wir alle Menſchen ſind, ſchwach und
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Jetzt lag Cäſar zu Wally's Füßen, wahr¬
haftig, ohne Bewußtſein, von einem ungeheuchel¬
ten Gefühle übermannt. Aber was warf ihn
nieder? Nicht die Liebe, ſondern der Gedanke
an eine Humanitätsfrage, die niemanden von
euch fremd iſt: der Gedanke an jene Augen¬
blicke, wo wir, überdrüſſig der conventionellen
Formen des Lebens, zu aller Welt herantreten
möchten und ihr zurufen: „O warum dies
Gehäuſe von Manieren, in welches du Spröde
dich zurückziehſt? Warum dieſe Verhüllung des
Menſchen in und an dir? Warum Zurückhal¬
tung, du, mein Bruder, du, meine Schweſter,
da du doch gleichen Weſens mit mir biſt, eine
Hand wie ich zum Drucke, einen Mund wie
ich zum Kuſſe haſt? Ach, wie ſeh' ich rings
um mich her eine ſo reife Ernte von Liebe
und Schönheit! Warum zögern, bis auf Jahre,
daß ich ſie breche? Warum nicht das Ent¬
zücken, daß wir alle Menſchen ſind, ſchwach und
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Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/84>, abgerufen am 16.02.2025.
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