ihren ersten Priester thut! Jede allgemeine, jede Weltreligion muß unabhängig von irgend einem Namen sein, und im Christenthum ist man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott, welche Jesu gebührt. Welch ein Glaube! Wir sind nicht ohne Poesie, wir schwärmen gern, weil wir in jedem Hauche der Natur einen Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht unglücklich sein, wenn wir nicht zuweilen auf unsern herben Lebenswein ein Rosenblatt der Illusion legen dürften, ein Rosenblatt, das uns in den Mund kömmt und zu trinken hindert, und das wir doch nicht missen möchten. Aber hier überschreitet eine Zumuthung die Linie des Erträglichen. Das Christenthum wurzele nicht in Jesu Lehre, sondern in seinem Leben: nicht die Liebe sei es, sagen sie, die er im Abend¬ mahle eingesetzt habe, sondern sein Fleisch und Blut, seine eigne Persönlichkeit, die nun im¬ merdar solle gegessen und getrunken werden.
ihren erſten Prieſter thut! Jede allgemeine, jede Weltreligion muß unabhängig von irgend einem Namen ſein, und im Chriſtenthum iſt man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott, welche Jeſu gebührt. Welch ein Glaube! Wir ſind nicht ohne Poeſie, wir ſchwärmen gern, weil wir in jedem Hauche der Natur einen Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht unglücklich ſein, wenn wir nicht zuweilen auf unſern herben Lebenswein ein Roſenblatt der Illuſion legen dürften, ein Roſenblatt, das uns in den Mund kömmt und zu trinken hindert, und das wir doch nicht miſſen möchten. Aber hier überſchreitet eine Zumuthung die Linie des Erträglichen. Das Chriſtenthum wurzele nicht in Jeſu Lehre, ſondern in ſeinem Leben: nicht die Liebe ſei es, ſagen ſie, die er im Abend¬ mahle eingeſetzt habe, ſondern ſein Fleiſch und Blut, ſeine eigne Perſönlichkeit, die nun im¬ merdar ſolle gegeſſen und getrunken werden.
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[282[280]/0289]
ihren erſten Prieſter thut! Jede allgemeine,
jede Weltreligion muß unabhängig von irgend
einem Namen ſein, und im Chriſtenthum iſt
man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott,
welche Jeſu gebührt. Welch ein Glaube! Wir
ſind nicht ohne Poeſie, wir ſchwärmen gern,
weil wir in jedem Hauche der Natur einen
Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht
unglücklich ſein, wenn wir nicht zuweilen auf
unſern herben Lebenswein ein Roſenblatt der
Illuſion legen dürften, ein Roſenblatt, das uns
in den Mund kömmt und zu trinken hindert,
und das wir doch nicht miſſen möchten. Aber
hier überſchreitet eine Zumuthung die Linie des
Erträglichen. Das Chriſtenthum wurzele nicht
in Jeſu Lehre, ſondern in ſeinem Leben: nicht
die Liebe ſei es, ſagen ſie, die er im Abend¬
mahle eingeſetzt habe, ſondern ſein Fleiſch und
Blut, ſeine eigne Perſönlichkeit, die nun im¬
merdar ſolle gegeſſen und getrunken werden.
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Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 282[280]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/289>, abgerufen am 22.11.2024.
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