Der Fürst von Canino lebt in Sinigaglia, nach¬ dem ihn schlechte Finanzen seine römischen Palläste zu verkaufen zwangen. Er stand dem Genie seines Bru¬ ders am nächsten, obschon er ohne Napoleon vielleicht nichts geworden wäre, als ein guter Börsenspekulant, vielleicht ein kühner Parteigänger der Revolution, oder ein mittelmäßiger Dichter. Das Terrain, worauf ihn sein Bruder stellte, kam ihm zu Hülfe. Was er an schroffer Energie besaß, verdeckte seine Leutseligkeit, und was ihm daran fehlte, ersetzte die Kunst der Reprä¬ sentation, die ihm meisterhaft zu Gebote stand. Er drängte sich gewandt durch die Parteien der Revolution, und riß soviel Gewalt an sich, daß er die Hauptsache am 18. Brümaire seinem Bruder übergeben konnte, ohne in eine abhängige Stellung zu kommen. Seitdem Napoleon seinem Bruder Etwas zu verdanken hatte, hörte auch ihr gutes Vernehmen auf: Napoleon ent¬ deckte an Lucian einen starren Republikanismus, oder wenigstens die Maske desselben, welche seine ehrgeizigen Absichten verbarg. Diplomatische Verdienste, die sich Lucian erwarb, und die neue Kohlen auf Napoleons Haupt sammelten, vermehrten das Mißverständniß, so daß Lucian endlich aus seiner Opposition ein Prinzip machte. Die Kaiserkrone erschöpfte den eifersüchtigen
Gutzkow's öffentl. Char. 9
Die Napoleoniden.
Der Fuͤrſt von Canino lebt in Sinigaglia, nach¬ dem ihn ſchlechte Finanzen ſeine roͤmiſchen Pallaͤſte zu verkaufen zwangen. Er ſtand dem Genie ſeines Bru¬ ders am naͤchſten, obſchon er ohne Napoleon vielleicht nichts geworden waͤre, als ein guter Boͤrſenſpekulant, vielleicht ein kuͤhner Parteigaͤnger der Revolution, oder ein mittelmaͤßiger Dichter. Das Terrain, worauf ihn ſein Bruder ſtellte, kam ihm zu Huͤlfe. Was er an ſchroffer Energie beſaß, verdeckte ſeine Leutſeligkeit, und was ihm daran fehlte, erſetzte die Kunſt der Repraͤ¬ ſentation, die ihm meiſterhaft zu Gebote ſtand. Er draͤngte ſich gewandt durch die Parteien der Revolution, und riß ſoviel Gewalt an ſich, daß er die Hauptſache am 18. Bruͤmaire ſeinem Bruder uͤbergeben konnte, ohne in eine abhaͤngige Stellung zu kommen. Seitdem Napoleon ſeinem Bruder Etwas zu verdanken hatte, hoͤrte auch ihr gutes Vernehmen auf: Napoleon ent¬ deckte an Lucian einen ſtarren Republikanismus, oder wenigſtens die Maske deſſelben, welche ſeine ehrgeizigen Abſichten verbarg. Diplomatiſche Verdienſte, die ſich Lucian erwarb, und die neue Kohlen auf Napoleons Haupt ſammelten, vermehrten das Mißverſtaͤndniß, ſo daß Lucian endlich aus ſeiner Oppoſition ein Prinzip machte. Die Kaiſerkrone erſchoͤpfte den eiferſuͤchtigen
Gutzkow's öffentl. Char. 9
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0147"n="129"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Die Napoleoniden</hi>.<lb/></fw><p>Der Fuͤrſt von Canino lebt in Sinigaglia, nach¬<lb/>
dem ihn ſchlechte Finanzen ſeine roͤmiſchen Pallaͤſte zu<lb/>
verkaufen zwangen. Er ſtand dem Genie ſeines Bru¬<lb/>
ders am naͤchſten, obſchon er ohne Napoleon vielleicht<lb/>
nichts geworden waͤre, als ein guter Boͤrſenſpekulant,<lb/>
vielleicht ein kuͤhner Parteigaͤnger der Revolution, oder<lb/>
ein mittelmaͤßiger Dichter. Das Terrain, worauf ihn<lb/>ſein Bruder ſtellte, kam ihm zu Huͤlfe. Was er an<lb/>ſchroffer Energie beſaß, verdeckte ſeine Leutſeligkeit, und<lb/>
was ihm daran fehlte, erſetzte die Kunſt der Repraͤ¬<lb/>ſentation, die ihm meiſterhaft zu Gebote ſtand. Er<lb/>
draͤngte ſich gewandt durch die Parteien der Revolution,<lb/>
und riß ſoviel Gewalt an ſich, daß er die Hauptſache<lb/>
am 18. Bruͤmaire ſeinem Bruder uͤbergeben konnte,<lb/>
ohne in eine abhaͤngige Stellung zu kommen. Seitdem<lb/>
Napoleon ſeinem Bruder Etwas zu verdanken hatte,<lb/>
hoͤrte auch ihr gutes Vernehmen auf: Napoleon ent¬<lb/>
deckte an Lucian einen ſtarren Republikanismus, oder<lb/>
wenigſtens die Maske deſſelben, welche ſeine ehrgeizigen<lb/>
Abſichten verbarg. Diplomatiſche Verdienſte, die ſich<lb/>
Lucian erwarb, und die neue Kohlen auf Napoleons<lb/>
Haupt ſammelten, vermehrten das Mißverſtaͤndniß, ſo<lb/>
daß Lucian endlich aus ſeiner Oppoſition ein Prinzip<lb/>
machte. Die Kaiſerkrone erſchoͤpfte den eiferſuͤchtigen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Gutzkow's öffentl. Char. 9<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[129/0147]
Die Napoleoniden.
Der Fuͤrſt von Canino lebt in Sinigaglia, nach¬
dem ihn ſchlechte Finanzen ſeine roͤmiſchen Pallaͤſte zu
verkaufen zwangen. Er ſtand dem Genie ſeines Bru¬
ders am naͤchſten, obſchon er ohne Napoleon vielleicht
nichts geworden waͤre, als ein guter Boͤrſenſpekulant,
vielleicht ein kuͤhner Parteigaͤnger der Revolution, oder
ein mittelmaͤßiger Dichter. Das Terrain, worauf ihn
ſein Bruder ſtellte, kam ihm zu Huͤlfe. Was er an
ſchroffer Energie beſaß, verdeckte ſeine Leutſeligkeit, und
was ihm daran fehlte, erſetzte die Kunſt der Repraͤ¬
ſentation, die ihm meiſterhaft zu Gebote ſtand. Er
draͤngte ſich gewandt durch die Parteien der Revolution,
und riß ſoviel Gewalt an ſich, daß er die Hauptſache
am 18. Bruͤmaire ſeinem Bruder uͤbergeben konnte,
ohne in eine abhaͤngige Stellung zu kommen. Seitdem
Napoleon ſeinem Bruder Etwas zu verdanken hatte,
hoͤrte auch ihr gutes Vernehmen auf: Napoleon ent¬
deckte an Lucian einen ſtarren Republikanismus, oder
wenigſtens die Maske deſſelben, welche ſeine ehrgeizigen
Abſichten verbarg. Diplomatiſche Verdienſte, die ſich
Lucian erwarb, und die neue Kohlen auf Napoleons
Haupt ſammelten, vermehrten das Mißverſtaͤndniß, ſo
daß Lucian endlich aus ſeiner Oppoſition ein Prinzip
machte. Die Kaiſerkrone erſchoͤpfte den eiferſuͤchtigen
Gutzkow's öffentl. Char. 9
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Ab Oktober 1834 ließ Karl Gutzkow seine als Serie… [mehr]
Ab Oktober 1834 ließ Karl Gutzkow seine als Serie angelegten Reflexionen über "Öffentliche Charaktere" in der Augsburger Allgemeinen Zeitung erscheinen. In Buchform erschien ein erster Band 1835 bei Hoffmann und Campe in Hamburg. Zur Publikation der weiteren geplanten Teile kam es nicht.
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_charaktere_1835/147>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.