ten in Begebenheiten um, denen ihre Folgen schon wie¬ der über den Kopf wuchsen! Das Schauspiel unsrer Tage hat sich vor überreicher Handlung in ein Epos verwandelt, so daß der Historiker weniger Epochen als Zustände zu schildern hat, breite Dimensionen, breite Antworten nicht mehr auf die Frage: Was geschah? sondern: Wie wurde gelebt?
Die Poesie der Geschichte war in jenen alten schlum¬ mernden Zeiten zuweilen ein flüchtiger Traum, ein üp¬ piger Auswuchs der Chronik, Oedipus im Hain der Eumeniden, Cleopatra am Strande des Meeres kosend mit Antonius, der Obolus des Belisar, Konradins Tod; kein Epos, wie jetzt; keine Kette von wunderba¬ ren Begebenheiten, wie die neue Geschichte. Wer wollte Napoleon zu einem tragischen Helden machen? Wer wollte alle die Elemente seiner Zeit (die er nicht immer bezwang, sondern nur augenblicklich beruhigte oder zur Ruhe zwang) fortläugnen, diese Hindernisse und Folien, welche seine Erscheinung in die Länge zo¬ gen, aus dem kurzen Drama ein gigantisches Epos mit Völkern und Tendenzen als Endreimen machen, und aus den Resten dieses Meteors, aus den Pallantiden Frankreichs einen Roman, ein breites Familiengemälde?
Aber ich frage darnach nichts; unsre großen histori¬
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Die Napoleoniden.
ten in Begebenheiten um, denen ihre Folgen ſchon wie¬ der uͤber den Kopf wuchſen! Das Schauſpiel unſrer Tage hat ſich vor uͤberreicher Handlung in ein Epos verwandelt, ſo daß der Hiſtoriker weniger Epochen als Zuſtaͤnde zu ſchildern hat, breite Dimenſionen, breite Antworten nicht mehr auf die Frage: Was geſchah? ſondern: Wie wurde gelebt?
Die Poeſie der Geſchichte war in jenen alten ſchlum¬ mernden Zeiten zuweilen ein fluͤchtiger Traum, ein uͤp¬ piger Auswuchs der Chronik, Oedipus im Hain der Eumeniden, Cleopatra am Strande des Meeres koſend mit Antonius, der Obolus des Beliſar, Konradins Tod; kein Epos, wie jetzt; keine Kette von wunderba¬ ren Begebenheiten, wie die neue Geſchichte. Wer wollte Napoleon zu einem tragiſchen Helden machen? Wer wollte alle die Elemente ſeiner Zeit (die er nicht immer bezwang, ſondern nur augenblicklich beruhigte oder zur Ruhe zwang) fortlaͤugnen, dieſe Hinderniſſe und Folien, welche ſeine Erſcheinung in die Laͤnge zo¬ gen, aus dem kurzen Drama ein gigantiſches Epos mit Voͤlkern und Tendenzen als Endreimen machen, und aus den Reſten dieſes Meteors, aus den Pallantiden Frankreichs einen Roman, ein breites Familiengemaͤlde?
Aber ich frage darnach nichts; unſre großen hiſtori¬
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Die Napoleoniden.
ten in Begebenheiten um, denen ihre Folgen ſchon wie¬
der uͤber den Kopf wuchſen! Das Schauſpiel unſrer
Tage hat ſich vor uͤberreicher Handlung in ein Epos
verwandelt, ſo daß der Hiſtoriker weniger Epochen als
Zuſtaͤnde zu ſchildern hat, breite Dimenſionen, breite
Antworten nicht mehr auf die Frage: Was geſchah?
ſondern: Wie wurde gelebt?
Die Poeſie der Geſchichte war in jenen alten ſchlum¬
mernden Zeiten zuweilen ein fluͤchtiger Traum, ein uͤp¬
piger Auswuchs der Chronik, Oedipus im Hain der
Eumeniden, Cleopatra am Strande des Meeres koſend
mit Antonius, der Obolus des Beliſar, Konradins
Tod; kein Epos, wie jetzt; keine Kette von wunderba¬
ren Begebenheiten, wie die neue Geſchichte. Wer
wollte Napoleon zu einem tragiſchen Helden machen?
Wer wollte alle die Elemente ſeiner Zeit (die er nicht
immer bezwang, ſondern nur augenblicklich beruhigte
oder zur Ruhe zwang) fortlaͤugnen, dieſe Hinderniſſe
und Folien, welche ſeine Erſcheinung in die Laͤnge zo¬
gen, aus dem kurzen Drama ein gigantiſches Epos mit
Voͤlkern und Tendenzen als Endreimen machen, und
aus den Reſten dieſes Meteors, aus den Pallantiden
Frankreichs einen Roman, ein breites Familiengemaͤlde?
Aber ich frage darnach nichts; unſre großen hiſtori¬
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Ab Oktober 1834 ließ Karl Gutzkow seine als Serie… [mehr]
Ab Oktober 1834 ließ Karl Gutzkow seine als Serie angelegten Reflexionen über "Öffentliche Charaktere" in der Augsburger Allgemeinen Zeitung erscheinen. In Buchform erschien ein erster Band 1835 bei Hoffmann und Campe in Hamburg. Zur Publikation der weiteren geplanten Teile kam es nicht.
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Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_charaktere_1835/133>, abgerufen am 27.07.2024.
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