Gutzkow, Karl: Börne's Leben. Hamburg, 1840.von unserm eignen Interesse, daß wir bei persönlichen Collisionen stets den Blick ungetrübt und das Vorurtheil unbefangen erhielten. Von früh an hab' ich die Neigung gehabt, mich in fremde Individualitäten hineinzuleben. Die besten Menschenkenner sind die, welche von den Tugenden und Schwächen der Andern Vortheile zu ziehen wünschen; die ihnen zunächst kommen, die, welche einen Fanatismus daraus machen, gegen Jedermann gerecht zu sein. Ich bin immer erschrocken, wenn ich irgend Einen unbedingt verurtheilen hörte; denn meine eigene Lebensentwickelung zeigte mir nur zu sehr, daß wir in unserm Gemüth von der ganzen Welt abweichen können, ohne deßhalb Ursache zu haben, uns weniger gut und gerecht zu erscheinen. Was ich mir selbst geschenkt wissen wollte, dies Vertrauen auf die individuelle Selbstgerechtigkeit des Menschen, hab' ich andern nie entzogen, ja mit Leidenschaft mir darin gefallen, mich in die Denk- und Fühlweise Anderer hineinzuleben, Adern und Geflechte in fremden Seelen tief zu verfolgen und die Menschen von unserm eignen Interesse, daß wir bei persönlichen Collisionen stets den Blick ungetrübt und das Vorurtheil unbefangen erhielten. Von früh an hab’ ich die Neigung gehabt, mich in fremde Individualitäten hineinzuleben. Die besten Menschenkenner sind die, welche von den Tugenden und Schwächen der Andern Vortheile zu ziehen wünschen; die ihnen zunächst kommen, die, welche einen Fanatismus daraus machen, gegen Jedermann gerecht zu sein. Ich bin immer erschrocken, wenn ich irgend Einen unbedingt verurtheilen hörte; denn meine eigene Lebensentwickelung zeigte mir nur zu sehr, daß wir in unserm Gemüth von der ganzen Welt abweichen können, ohne deßhalb Ursache zu haben, uns weniger gut und gerecht zu erscheinen. Was ich mir selbst geschenkt wissen wollte, dies Vertrauen auf die individuelle Selbstgerechtigkeit des Menschen, hab’ ich andern nie entzogen, ja mit Leidenschaft mir darin gefallen, mich in die Denk- und Fühlweise Anderer hineinzuleben, Adern und Geflechte in fremden Seelen tief zu verfolgen und die Menschen <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0016" n="X"/> von unserm eignen Interesse, daß wir bei persönlichen Collisionen stets den Blick ungetrübt und das Vorurtheil unbefangen erhielten.</p> <p>Von früh an hab’ ich die Neigung gehabt, mich in fremde Individualitäten hineinzuleben. Die besten Menschenkenner sind die, welche von den Tugenden und Schwächen der Andern Vortheile zu ziehen wünschen; die ihnen zunächst kommen, die, welche einen Fanatismus daraus machen, gegen Jedermann gerecht zu sein. Ich bin immer erschrocken, wenn ich irgend Einen unbedingt verurtheilen hörte; denn meine eigene Lebensentwickelung zeigte mir nur zu sehr, daß wir in unserm Gemüth von der ganzen Welt abweichen können, ohne deßhalb Ursache zu haben, uns weniger gut und gerecht zu erscheinen. Was ich mir selbst geschenkt wissen wollte, dies Vertrauen auf die individuelle Selbstgerechtigkeit des Menschen, hab’ ich andern nie entzogen, ja mit Leidenschaft mir darin gefallen, mich in die Denk- und Fühlweise Anderer hineinzuleben, Adern und Geflechte in fremden Seelen tief zu verfolgen und die Menschen </p> </div> </front> </text> </TEI> [X/0016]
von unserm eignen Interesse, daß wir bei persönlichen Collisionen stets den Blick ungetrübt und das Vorurtheil unbefangen erhielten.
Von früh an hab’ ich die Neigung gehabt, mich in fremde Individualitäten hineinzuleben. Die besten Menschenkenner sind die, welche von den Tugenden und Schwächen der Andern Vortheile zu ziehen wünschen; die ihnen zunächst kommen, die, welche einen Fanatismus daraus machen, gegen Jedermann gerecht zu sein. Ich bin immer erschrocken, wenn ich irgend Einen unbedingt verurtheilen hörte; denn meine eigene Lebensentwickelung zeigte mir nur zu sehr, daß wir in unserm Gemüth von der ganzen Welt abweichen können, ohne deßhalb Ursache zu haben, uns weniger gut und gerecht zu erscheinen. Was ich mir selbst geschenkt wissen wollte, dies Vertrauen auf die individuelle Selbstgerechtigkeit des Menschen, hab’ ich andern nie entzogen, ja mit Leidenschaft mir darin gefallen, mich in die Denk- und Fühlweise Anderer hineinzuleben, Adern und Geflechte in fremden Seelen tief zu verfolgen und die Menschen
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Börne's Leben. Hamburg, 1840, S. X. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_boerne_1840/16>, abgerufen am 16.07.2024. |