Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Vorwärts, Vetterchen, vorwärts! ich habe Ihr Wort; schmieden Sie das Eisen, so lange es warm ist. Courage! Ich will jetzt nur noch Zucker holen, meine Herrschaften, die Himbeeren brauchen viel -- gleich bin ich wieder da. Und abermals entschlüpfte sie. Sie haben wohl schon oft solche Erklärungen gemacht, Herr Secretär? sagte Julia, als sie sich dem Vetter wieder allein gegenüber sah. Sie maß ihn dabei mit einem schalkhaften Blick ihrer schönen Augen. Wie meinen Sie das, hochgeehrte Frau? antwortete Isidor Schnittlauch mit gekränkter Würde. Oh, ich halte das nicht für gefahrlos, fuhr Julia mit munterem Tone fort. Die Unglücklichen zu trösten, sich der Verlassenen anzunehmen, das ist ja immer ein Amt jener, wie Sie es nennen, bevorzugten höheren Naturen gewesen. Wie Viele haben Sie wohl schon getröstet, Herr Vetter? Isidor Schnittlauch balancirte mit Grazie auf dem Griffe seines Parapluies, den er gestern hier stehen gelassen hatte, dann fuhr er mit gespreizten Fingern wieder durch die hobelspanblonden Locken. Sie belieben zu fragen, meine Hochverehrte, wie mich gestern schon die treffliche Frau Conrectorin fragte. Ich kann keine andere Antwort geben; ich will mich wirklich nicht rühmen. Die Grenzen der Moral und Kunst sind ebenso verschieden, wie Natur und Geist, -- -- halt -- ich will sie auf eine Probe stellen, dachte er für sich und stürzte rasch ein Glas Wein hinunter, Vorwärts, Vetterchen, vorwärts! ich habe Ihr Wort; schmieden Sie das Eisen, so lange es warm ist. Courage! Ich will jetzt nur noch Zucker holen, meine Herrschaften, die Himbeeren brauchen viel — gleich bin ich wieder da. Und abermals entschlüpfte sie. Sie haben wohl schon oft solche Erklärungen gemacht, Herr Secretär? sagte Julia, als sie sich dem Vetter wieder allein gegenüber sah. Sie maß ihn dabei mit einem schalkhaften Blick ihrer schönen Augen. Wie meinen Sie das, hochgeehrte Frau? antwortete Isidor Schnittlauch mit gekränkter Würde. Oh, ich halte das nicht für gefahrlos, fuhr Julia mit munterem Tone fort. Die Unglücklichen zu trösten, sich der Verlassenen anzunehmen, das ist ja immer ein Amt jener, wie Sie es nennen, bevorzugten höheren Naturen gewesen. Wie Viele haben Sie wohl schon getröstet, Herr Vetter? Isidor Schnittlauch balancirte mit Grazie auf dem Griffe seines Parapluies, den er gestern hier stehen gelassen hatte, dann fuhr er mit gespreizten Fingern wieder durch die hobelspanblonden Locken. Sie belieben zu fragen, meine Hochverehrte, wie mich gestern schon die treffliche Frau Conrectorin fragte. Ich kann keine andere Antwort geben; ich will mich wirklich nicht rühmen. Die Grenzen der Moral und Kunst sind ebenso verschieden, wie Natur und Geist, — — halt — ich will sie auf eine Probe stellen, dachte er für sich und stürzte rasch ein Glas Wein hinunter, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <pb facs="#f0094"/> <p>Vorwärts, Vetterchen, vorwärts! ich habe Ihr Wort; schmieden Sie das Eisen, so lange es warm ist. Courage! Ich will jetzt nur noch Zucker holen, meine Herrschaften, die Himbeeren brauchen viel — gleich bin ich wieder da. Und abermals entschlüpfte sie.</p><lb/> <p>Sie haben wohl schon oft solche Erklärungen gemacht, Herr Secretär? sagte Julia, als sie sich dem Vetter wieder allein gegenüber sah. Sie maß ihn dabei mit einem schalkhaften Blick ihrer schönen Augen.</p><lb/> <p>Wie meinen Sie das, hochgeehrte Frau? antwortete Isidor Schnittlauch mit gekränkter Würde.</p><lb/> <p>Oh, ich halte das nicht für gefahrlos, fuhr Julia mit munterem Tone fort. Die Unglücklichen zu trösten, sich der Verlassenen anzunehmen, das ist ja immer ein Amt jener, wie Sie es nennen, bevorzugten höheren Naturen gewesen. Wie Viele haben Sie wohl schon getröstet, Herr Vetter?</p><lb/> <p>Isidor Schnittlauch balancirte mit Grazie auf dem Griffe seines Parapluies, den er gestern hier stehen gelassen hatte, dann fuhr er mit gespreizten Fingern wieder durch die hobelspanblonden Locken.</p><lb/> <p>Sie belieben zu fragen, meine Hochverehrte, wie mich gestern schon die treffliche Frau Conrectorin fragte. Ich kann keine andere Antwort geben; ich will mich wirklich nicht rühmen. Die Grenzen der Moral und Kunst sind ebenso verschieden, wie Natur und Geist, — — halt — ich will sie auf eine Probe stellen, dachte er für sich und stürzte rasch ein Glas Wein hinunter,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0094]
Vorwärts, Vetterchen, vorwärts! ich habe Ihr Wort; schmieden Sie das Eisen, so lange es warm ist. Courage! Ich will jetzt nur noch Zucker holen, meine Herrschaften, die Himbeeren brauchen viel — gleich bin ich wieder da. Und abermals entschlüpfte sie.
Sie haben wohl schon oft solche Erklärungen gemacht, Herr Secretär? sagte Julia, als sie sich dem Vetter wieder allein gegenüber sah. Sie maß ihn dabei mit einem schalkhaften Blick ihrer schönen Augen.
Wie meinen Sie das, hochgeehrte Frau? antwortete Isidor Schnittlauch mit gekränkter Würde.
Oh, ich halte das nicht für gefahrlos, fuhr Julia mit munterem Tone fort. Die Unglücklichen zu trösten, sich der Verlassenen anzunehmen, das ist ja immer ein Amt jener, wie Sie es nennen, bevorzugten höheren Naturen gewesen. Wie Viele haben Sie wohl schon getröstet, Herr Vetter?
Isidor Schnittlauch balancirte mit Grazie auf dem Griffe seines Parapluies, den er gestern hier stehen gelassen hatte, dann fuhr er mit gespreizten Fingern wieder durch die hobelspanblonden Locken.
Sie belieben zu fragen, meine Hochverehrte, wie mich gestern schon die treffliche Frau Conrectorin fragte. Ich kann keine andere Antwort geben; ich will mich wirklich nicht rühmen. Die Grenzen der Moral und Kunst sind ebenso verschieden, wie Natur und Geist, — — halt — ich will sie auf eine Probe stellen, dachte er für sich und stürzte rasch ein Glas Wein hinunter,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/94 |
Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/94>, abgerufen am 22.07.2024. |