Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.annahm. Das ist schwer zu sagen, Frau Conrectorin, und Sie würden mich abermals mißverstehen, wenn ich dieses Mysterium näher berühren, freier entschleiern wollte. Entschleiern Sie nur, Vetterchen, geniren Sie sich nicht, sagte die Conrectorin gutmüthig. Sehen Sie, meine hochverehrte Frau Conrectorin, das, was ich von einer Frau verlange, es läßt sich in wenige Silben zusammenfassen: Poesie vor allen Dingen -- das heißt Muth, Freiheit, Seelengröße und Entschlossenheit. Daneben natürlich hinreißende Schönheit, ätherische, blumenhafte Erscheinung, Verständniß alles Hohen und Erhabenen, dennoch unberührt vom Strahl blasirter Erkenntniß, geschmückt vielmehr mit dem Schmelz der Unschuld und unbewußt des eigenen verborgenen Feuers der Leidenschaft -- mit Einem Wort, Frau Conrectorin, ein Ideal müßte sie sein, und solche giebt es nicht mehr! Weiter wünschen Sie nichts, Vetterchen? sagte die Conrectorin; nun, das muß man sagen, Sie sind recht bescheiden. Nein, solche Wesen giebt es nicht mehr, fuhr der Vetter fort; höchstens sind sie noch im Reiche der Poesie und der Kunst zu finden, aber wie sind sie in Wirklichkeit? eitel, putzsüchtig, schwatzhaft, launisch . . . Prosaisch, naschhaft und gefallsüchtig, ja wohl, diese alte Litanei kennen wir schon -- Ohne wahre Ehre, ohne echte Tugend, ohne innere Ideale, ohne Zucht und Sitte! annahm. Das ist schwer zu sagen, Frau Conrectorin, und Sie würden mich abermals mißverstehen, wenn ich dieses Mysterium näher berühren, freier entschleiern wollte. Entschleiern Sie nur, Vetterchen, geniren Sie sich nicht, sagte die Conrectorin gutmüthig. Sehen Sie, meine hochverehrte Frau Conrectorin, das, was ich von einer Frau verlange, es läßt sich in wenige Silben zusammenfassen: Poesie vor allen Dingen — das heißt Muth, Freiheit, Seelengröße und Entschlossenheit. Daneben natürlich hinreißende Schönheit, ätherische, blumenhafte Erscheinung, Verständniß alles Hohen und Erhabenen, dennoch unberührt vom Strahl blasirter Erkenntniß, geschmückt vielmehr mit dem Schmelz der Unschuld und unbewußt des eigenen verborgenen Feuers der Leidenschaft — mit Einem Wort, Frau Conrectorin, ein Ideal müßte sie sein, und solche giebt es nicht mehr! Weiter wünschen Sie nichts, Vetterchen? sagte die Conrectorin; nun, das muß man sagen, Sie sind recht bescheiden. Nein, solche Wesen giebt es nicht mehr, fuhr der Vetter fort; höchstens sind sie noch im Reiche der Poesie und der Kunst zu finden, aber wie sind sie in Wirklichkeit? eitel, putzsüchtig, schwatzhaft, launisch . . . Prosaisch, naschhaft und gefallsüchtig, ja wohl, diese alte Litanei kennen wir schon — Ohne wahre Ehre, ohne echte Tugend, ohne innere Ideale, ohne Zucht und Sitte! <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0012"/> annahm. Das ist schwer zu sagen, Frau Conrectorin, und Sie würden mich abermals mißverstehen, wenn ich dieses Mysterium näher berühren, freier entschleiern wollte.</p><lb/> <p>Entschleiern Sie nur, Vetterchen, geniren Sie sich nicht, sagte die Conrectorin gutmüthig.</p><lb/> <p>Sehen Sie, meine hochverehrte Frau Conrectorin, das, was ich von einer Frau verlange, es läßt sich in wenige Silben zusammenfassen: Poesie vor allen Dingen — das heißt Muth, Freiheit, Seelengröße und Entschlossenheit. Daneben natürlich hinreißende Schönheit, ätherische, blumenhafte Erscheinung, Verständniß alles Hohen und Erhabenen, dennoch unberührt vom Strahl blasirter Erkenntniß, geschmückt vielmehr mit dem Schmelz der Unschuld und unbewußt des eigenen verborgenen Feuers der Leidenschaft — mit Einem Wort, Frau Conrectorin, ein Ideal müßte sie sein, und solche giebt es nicht mehr!</p><lb/> <p>Weiter wünschen Sie nichts, Vetterchen? sagte die Conrectorin; nun, das muß man sagen, Sie sind recht bescheiden.</p><lb/> <p>Nein, solche Wesen giebt es nicht mehr, fuhr der Vetter fort; höchstens sind sie noch im Reiche der Poesie und der Kunst zu finden, aber wie sind sie in Wirklichkeit? eitel, putzsüchtig, schwatzhaft, launisch . . .</p><lb/> <p>Prosaisch, naschhaft und gefallsüchtig, ja wohl, diese alte Litanei kennen wir schon —</p><lb/> <p>Ohne wahre Ehre, ohne echte Tugend, ohne innere Ideale, ohne Zucht und Sitte!</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0012]
annahm. Das ist schwer zu sagen, Frau Conrectorin, und Sie würden mich abermals mißverstehen, wenn ich dieses Mysterium näher berühren, freier entschleiern wollte.
Entschleiern Sie nur, Vetterchen, geniren Sie sich nicht, sagte die Conrectorin gutmüthig.
Sehen Sie, meine hochverehrte Frau Conrectorin, das, was ich von einer Frau verlange, es läßt sich in wenige Silben zusammenfassen: Poesie vor allen Dingen — das heißt Muth, Freiheit, Seelengröße und Entschlossenheit. Daneben natürlich hinreißende Schönheit, ätherische, blumenhafte Erscheinung, Verständniß alles Hohen und Erhabenen, dennoch unberührt vom Strahl blasirter Erkenntniß, geschmückt vielmehr mit dem Schmelz der Unschuld und unbewußt des eigenen verborgenen Feuers der Leidenschaft — mit Einem Wort, Frau Conrectorin, ein Ideal müßte sie sein, und solche giebt es nicht mehr!
Weiter wünschen Sie nichts, Vetterchen? sagte die Conrectorin; nun, das muß man sagen, Sie sind recht bescheiden.
Nein, solche Wesen giebt es nicht mehr, fuhr der Vetter fort; höchstens sind sie noch im Reiche der Poesie und der Kunst zu finden, aber wie sind sie in Wirklichkeit? eitel, putzsüchtig, schwatzhaft, launisch . . .
Prosaisch, naschhaft und gefallsüchtig, ja wohl, diese alte Litanei kennen wir schon —
Ohne wahre Ehre, ohne echte Tugend, ohne innere Ideale, ohne Zucht und Sitte!
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/12>, abgerufen am 16.07.2024. |