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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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und ein Anfangen der neuen Erscheinung setzt? Dann ließe
sich zur Noth noch jenes Ende begreifen, (weil ein Leben ab-
geschnitten werden kann,) aber durchaus nicht dieser neue An-
fang. Der Meistergesang im vierzehnten oder funfzehnten Jahr-
hundert als etwas eigenthümliches erstanden, wäre ein Kind
ohne Jugend, und die ganze Geschichte dieser Zeit könnte uns
nirgends seine Wundergeburt deutlich machen. Vielmehr stoßen
wir allerseits an eine eigentliche Mitte, welche auf früheres
und späteres hinweist und unsere Kenntniß von beiden erst
vollständig macht.

Ich wende mich nun näher zu dem, was ich für den be-
sten Leitstern unserer Untersuchung, für das Charakteristische des
Meistersangs halte, um dadurch, wofern es der früheren und
späteren Zeit auf gleiche Art zukommt, meine Vorstellung zu
rechtfertigen.

Unter allen Regeln der Metrik, so willkürlich sie auch
scheinen mögen, liegt zuletzt ein Geheimniß, dessen Kunde uns
entgangen seyn kann, während die aus ihm hervorgewachsenen
Bildungen es beständig fort in sich tragen. Wenn sich nun so-
gar in unserer deutschen Kunstpoesie ein solches Fundament
nicht verleugnet hat und bestimmt waltet, so erwirbt sich auch
hier die Nation das Vorrecht einer Gründlichkeit, wie sie bei
andern die Geschichte der Poesie wenigstens nicht so deutlich
ausfinden oder nachweisen kann.

Es ist hier von andern metrischen Grundformen keine Rede
und soll darüber nicht entschieden werden, aber gewiß, die der
Dreiheit trägt das Merkmal der Einfachheit und zugleich
großen Sinnes und tiefer Bedeutung in sich. Wie sich in ei-
nem Theil der Natur, z. B. im Pflanzenreich, die Bildung eines
Ganzen meistens in und durch einen ungleichen Theil beschließt,
oder deutlicher vielleicht, der zuletzt hinzutretende Schlußstein
eine ungleiche Zahl macht, so entwickelt sich hier in der Poesie

und ein Anfangen der neuen Erſcheinung ſetzt? Dann ließe
ſich zur Noth noch jenes Ende begreifen, (weil ein Leben ab-
geſchnitten werden kann,) aber durchaus nicht dieſer neue An-
fang. Der Meiſtergeſang im vierzehnten oder funfzehnten Jahr-
hundert als etwas eigenthuͤmliches erſtanden, waͤre ein Kind
ohne Jugend, und die ganze Geſchichte dieſer Zeit koͤnnte uns
nirgends ſeine Wundergeburt deutlich machen. Vielmehr ſtoßen
wir allerſeits an eine eigentliche Mitte, welche auf fruͤheres
und ſpaͤteres hinweiſt und unſere Kenntniß von beiden erſt
vollſtaͤndig macht.

Ich wende mich nun naͤher zu dem, was ich fuͤr den be-
ſten Leitſtern unſerer Unterſuchung, fuͤr das Charakteriſtiſche des
Meiſterſangs halte, um dadurch, wofern es der fruͤheren und
ſpaͤteren Zeit auf gleiche Art zukommt, meine Vorſtellung zu
rechtfertigen.

Unter allen Regeln der Metrik, ſo willkuͤrlich ſie auch
ſcheinen moͤgen, liegt zuletzt ein Geheimniß, deſſen Kunde uns
entgangen ſeyn kann, waͤhrend die aus ihm hervorgewachſenen
Bildungen es beſtaͤndig fort in ſich tragen. Wenn ſich nun ſo-
gar in unſerer deutſchen Kunſtpoeſie ein ſolches Fundament
nicht verleugnet hat und beſtimmt waltet, ſo erwirbt ſich auch
hier die Nation das Vorrecht einer Gruͤndlichkeit, wie ſie bei
andern die Geſchichte der Poeſie wenigſtens nicht ſo deutlich
ausfinden oder nachweiſen kann.

Es iſt hier von andern metriſchen Grundformen keine Rede
und ſoll daruͤber nicht entſchieden werden, aber gewiß, die der
Dreiheit traͤgt das Merkmal der Einfachheit und zugleich
großen Sinnes und tiefer Bedeutung in ſich. Wie ſich in ei-
nem Theil der Natur, z. B. im Pflanzenreich, die Bildung eines
Ganzen meiſtens in und durch einen ungleichen Theil beſchließt,
oder deutlicher vielleicht, der zuletzt hinzutretende Schlußſtein
eine ungleiche Zahl macht, ſo entwickelt ſich hier in der Poeſie

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[40/0050] und ein Anfangen der neuen Erſcheinung ſetzt? Dann ließe ſich zur Noth noch jenes Ende begreifen, (weil ein Leben ab- geſchnitten werden kann,) aber durchaus nicht dieſer neue An- fang. Der Meiſtergeſang im vierzehnten oder funfzehnten Jahr- hundert als etwas eigenthuͤmliches erſtanden, waͤre ein Kind ohne Jugend, und die ganze Geſchichte dieſer Zeit koͤnnte uns nirgends ſeine Wundergeburt deutlich machen. Vielmehr ſtoßen wir allerſeits an eine eigentliche Mitte, welche auf fruͤheres und ſpaͤteres hinweiſt und unſere Kenntniß von beiden erſt vollſtaͤndig macht. Ich wende mich nun naͤher zu dem, was ich fuͤr den be- ſten Leitſtern unſerer Unterſuchung, fuͤr das Charakteriſtiſche des Meiſterſangs halte, um dadurch, wofern es der fruͤheren und ſpaͤteren Zeit auf gleiche Art zukommt, meine Vorſtellung zu rechtfertigen. Unter allen Regeln der Metrik, ſo willkuͤrlich ſie auch ſcheinen moͤgen, liegt zuletzt ein Geheimniß, deſſen Kunde uns entgangen ſeyn kann, waͤhrend die aus ihm hervorgewachſenen Bildungen es beſtaͤndig fort in ſich tragen. Wenn ſich nun ſo- gar in unſerer deutſchen Kunſtpoeſie ein ſolches Fundament nicht verleugnet hat und beſtimmt waltet, ſo erwirbt ſich auch hier die Nation das Vorrecht einer Gruͤndlichkeit, wie ſie bei andern die Geſchichte der Poeſie wenigſtens nicht ſo deutlich ausfinden oder nachweiſen kann. Es iſt hier von andern metriſchen Grundformen keine Rede und ſoll daruͤber nicht entſchieden werden, aber gewiß, die der Dreiheit traͤgt das Merkmal der Einfachheit und zugleich großen Sinnes und tiefer Bedeutung in ſich. Wie ſich in ei- nem Theil der Natur, z. B. im Pflanzenreich, die Bildung eines Ganzen meiſtens in und durch einen ungleichen Theil beſchließt, oder deutlicher vielleicht, der zuletzt hinzutretende Schlußſtein eine ungleiche Zahl macht, ſo entwickelt ſich hier in der Poeſie

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/50>, abgerufen am 19.04.2024.