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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Uebersicht
der Meisterkunst
von Anfang bis zu Ende
.


Ueber den Ursprung des Meistersangs etwas Bestimmtes
oder nur Wahrscheinliches zu setzen, ist auf den ersten Anblick
unthunlich. Vor allem nach der bisherigen Ansicht, wie sollte
sich eine so scharfe und engförmliche Gesellschaft, als man doch
in dem 15ten und 16ten Jahrhundert erkennt, niedergesetzt und
gestiftet haben, ohne daß es dabei zu schriftlichen Urkunden
gekommen wäre? Dieß anzunehmen, scheint um so nöthiger,
da man weiß, daß späterhin in den Schulen der Meistersänger
gewisse geschriebene Ordnungen und Gesetze vorhanden waren;
warum sollten sich also diese nicht von einer früheren herleiten?

Allein gerade alle solche Urkunden, oder gar die einer
Stiftung mangeln gänzlich. Die älteste bekannte Tabulatur 14),
die Straßburger, kann höchstens nur eine für die dortige Zunft
neu aufgesetzte und veränderte seyn, sie ist voll historischer
Verirrung über gar viel ältere Meister. (Man sehe den Aus-
zug bei Schilter v. Bardus.) Die Straßburger Zunft
mag immerhin erst 1493, (nach dem vermuthlich von C. Span-
genberg aufgesetzten Brief des Raths von 1598) aufgekommen
seyn, unerachtet manches mit Grund dagegen zu sagen wäre;
so ist doch die Meistersängerei des vierzehnten Jahrhunderts zu
unleugbar, als daß wir ihn erst so spät dürften beginnen las-
sen. Und keine einzige Chronik, kein Document des vierzehn-
ten oder funfzehnten Jahrhunderts thut Meldung einer solchen

14) Dieses Wort ist schon früher, als es in Meisterschulen gebraucht
wurde, für die Musik üblich gewesen, und es wohl noch.
Ueberſicht
der Meiſterkunſt
von Anfang bis zu Ende
.


Ueber den Urſprung des Meiſterſangs etwas Beſtimmtes
oder nur Wahrſcheinliches zu ſetzen, iſt auf den erſten Anblick
unthunlich. Vor allem nach der bisherigen Anſicht, wie ſollte
ſich eine ſo ſcharfe und engfoͤrmliche Geſellſchaft, als man doch
in dem 15ten und 16ten Jahrhundert erkennt, niedergeſetzt und
geſtiftet haben, ohne daß es dabei zu ſchriftlichen Urkunden
gekommen waͤre? Dieß anzunehmen, ſcheint um ſo noͤthiger,
da man weiß, daß ſpaͤterhin in den Schulen der Meiſterſaͤnger
gewiſſe geſchriebene Ordnungen und Geſetze vorhanden waren;
warum ſollten ſich alſo dieſe nicht von einer fruͤheren herleiten?

Allein gerade alle ſolche Urkunden, oder gar die einer
Stiftung mangeln gaͤnzlich. Die aͤlteſte bekannte Tabulatur 14),
die Straßburger, kann hoͤchſtens nur eine fuͤr die dortige Zunft
neu aufgeſetzte und veraͤnderte ſeyn, ſie iſt voll hiſtoriſcher
Verirrung uͤber gar viel aͤltere Meiſter. (Man ſehe den Aus-
zug bei Schilter v. Bardus.) Die Straßburger Zunft
mag immerhin erſt 1493, (nach dem vermuthlich von C. Span-
genberg aufgeſetzten Brief des Raths von 1598) aufgekommen
ſeyn, unerachtet manches mit Grund dagegen zu ſagen waͤre;
ſo iſt doch die Meiſterſaͤngerei des vierzehnten Jahrhunderts zu
unleugbar, als daß wir ihn erſt ſo ſpaͤt duͤrften beginnen laſ-
ſen. Und keine einzige Chronik, kein Document des vierzehn-
ten oder funfzehnten Jahrhunderts thut Meldung einer ſolchen

14) Dieſes Wort iſt ſchon fruͤher, als es in Meiſterſchulen gebraucht
wurde, fuͤr die Muſik uͤblich geweſen, und es wohl noch.
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[26/0036] Ueberſicht der Meiſterkunſt von Anfang bis zu Ende. Ueber den Urſprung des Meiſterſangs etwas Beſtimmtes oder nur Wahrſcheinliches zu ſetzen, iſt auf den erſten Anblick unthunlich. Vor allem nach der bisherigen Anſicht, wie ſollte ſich eine ſo ſcharfe und engfoͤrmliche Geſellſchaft, als man doch in dem 15ten und 16ten Jahrhundert erkennt, niedergeſetzt und geſtiftet haben, ohne daß es dabei zu ſchriftlichen Urkunden gekommen waͤre? Dieß anzunehmen, ſcheint um ſo noͤthiger, da man weiß, daß ſpaͤterhin in den Schulen der Meiſterſaͤnger gewiſſe geſchriebene Ordnungen und Geſetze vorhanden waren; warum ſollten ſich alſo dieſe nicht von einer fruͤheren herleiten? Allein gerade alle ſolche Urkunden, oder gar die einer Stiftung mangeln gaͤnzlich. Die aͤlteſte bekannte Tabulatur 14), die Straßburger, kann hoͤchſtens nur eine fuͤr die dortige Zunft neu aufgeſetzte und veraͤnderte ſeyn, ſie iſt voll hiſtoriſcher Verirrung uͤber gar viel aͤltere Meiſter. (Man ſehe den Aus- zug bei Schilter v. Bardus.) Die Straßburger Zunft mag immerhin erſt 1493, (nach dem vermuthlich von C. Span- genberg aufgeſetzten Brief des Raths von 1598) aufgekommen ſeyn, unerachtet manches mit Grund dagegen zu ſagen waͤre; ſo iſt doch die Meiſterſaͤngerei des vierzehnten Jahrhunderts zu unleugbar, als daß wir ihn erſt ſo ſpaͤt duͤrften beginnen laſ- ſen. Und keine einzige Chronik, kein Document des vierzehn- ten oder funfzehnten Jahrhunderts thut Meldung einer ſolchen 14) Dieſes Wort iſt ſchon fruͤher, als es in Meiſterſchulen gebraucht wurde, fuͤr die Muſik uͤblich geweſen, und es wohl noch.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/36>, abgerufen am 29.03.2024.