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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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So aber erfahren wir darüber nichts sicheres, und alle die für
Meister zugestandenen sind lauter solche, die sich nach jenen
äußeren Umständen dazu eignen. Ohne letztere hätte Docen
an Hadloub nimmermehr etwas Meisterfängerisches entdeckt,
und ich war mit Recht erstaunt, den Veldeck, dessen Lieder
mir erst als ein wahres Gegenmuster aller Meistersänger auf-
gegeben wurden, nunmehr unter ihnen selbst zu finden.

Es mag seyn, daß sich Docen diese nicht zu verbergende
Behauptung nicht recht eingestanden hat, er scheint sogar einige
mal sein System auf die Gedichte überzutragen, einen Mei-
stersinger anzunehmen, welcher außerdem auch noch Minnelieder
gemacht habe, und dann in so fern kein Meistersänger sey 7).
Aber das bessert nichts, denn nun weise er diese gewissen Mei-
sterlieder her, ob sie von den Minneliedern des nämlichen
Dichters so verschieden aussehen 8), und ist nicht eines so un-
recht wie das andere, anzunehmen, entweder: es haben Zeit-
genossen gelebt und einerlei Lieder gesungen, die einen sind
davon Meistersänger gewesen, die andern nicht? oder: ein
und derselbe Dichter hat außer den Meisterliedern auch noch
Minnelieder gemacht, da doch beiderlei dieselbe Förmlichkeit in
sich tragen und in den Handschriften mitten unter einander
stehen?

Darin mißversteht mich Docen am meisten, daß er thut,
als ob ich das Wesen des Meistergesangs in einige Zufällig-
keiten setze, darum weil ich diese mit zu Beweisen brauche.


7) S. 453 hat er das wieder nicht angenommen, hier heißt es
bestimmt, die sieben Wartburger Dichter seyen keine Minnesän-
ger. S. 454 scheinen sie wieder: "nicht bloß Minnesinger."
8) Es ist damit ganz anders, als wenn der Meistersänger Sachs
auch andere Gedichte schreibt, die keiner für Meistersänge hält,
und ich auch nicht, oder wenn die alten Meister in unver-
schlungenen Reimen lange Romane.

So aber erfahren wir daruͤber nichts ſicheres, und alle die fuͤr
Meiſter zugeſtandenen ſind lauter ſolche, die ſich nach jenen
aͤußeren Umſtaͤnden dazu eignen. Ohne letztere haͤtte Docen
an Hadloub nimmermehr etwas Meiſterfaͤngeriſches entdeckt,
und ich war mit Recht erſtaunt, den Veldeck, deſſen Lieder
mir erſt als ein wahres Gegenmuſter aller Meiſterſaͤnger auf-
gegeben wurden, nunmehr unter ihnen ſelbſt zu finden.

Es mag ſeyn, daß ſich Docen dieſe nicht zu verbergende
Behauptung nicht recht eingeſtanden hat, er ſcheint ſogar einige
mal ſein Syſtem auf die Gedichte uͤberzutragen, einen Mei-
ſterſinger anzunehmen, welcher außerdem auch noch Minnelieder
gemacht habe, und dann in ſo fern kein Meiſterſaͤnger ſey 7).
Aber das beſſert nichts, denn nun weiſe er dieſe gewiſſen Mei-
ſterlieder her, ob ſie von den Minneliedern des naͤmlichen
Dichters ſo verſchieden ausſehen 8), und iſt nicht eines ſo un-
recht wie das andere, anzunehmen, entweder: es haben Zeit-
genoſſen gelebt und einerlei Lieder geſungen, die einen ſind
davon Meiſterſaͤnger geweſen, die andern nicht? oder: ein
und derſelbe Dichter hat außer den Meiſterliedern auch noch
Minnelieder gemacht, da doch beiderlei dieſelbe Foͤrmlichkeit in
ſich tragen und in den Handſchriften mitten unter einander
ſtehen?

Darin mißverſteht mich Docen am meiſten, daß er thut,
als ob ich das Weſen des Meiſtergeſangs in einige Zufaͤllig-
keiten ſetze, darum weil ich dieſe mit zu Beweiſen brauche.


7) S. 453 hat er das wieder nicht angenommen, hier heißt es
beſtimmt, die ſieben Wartburger Dichter ſeyen keine Minneſaͤn-
ger. S. 454 ſcheinen ſie wieder: „nicht bloß Minneſinger.“
8) Es iſt damit ganz anders, als wenn der Meiſterſaͤnger Sachs
auch andere Gedichte ſchreibt, die keiner fuͤr Meiſterſaͤnge haͤlt,
und ich auch nicht, oder wenn die alten Meiſter in unver-
ſchlungenen Reimen lange Romane.
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[18/0028] So aber erfahren wir daruͤber nichts ſicheres, und alle die fuͤr Meiſter zugeſtandenen ſind lauter ſolche, die ſich nach jenen aͤußeren Umſtaͤnden dazu eignen. Ohne letztere haͤtte Docen an Hadloub nimmermehr etwas Meiſterfaͤngeriſches entdeckt, und ich war mit Recht erſtaunt, den Veldeck, deſſen Lieder mir erſt als ein wahres Gegenmuſter aller Meiſterſaͤnger auf- gegeben wurden, nunmehr unter ihnen ſelbſt zu finden. Es mag ſeyn, daß ſich Docen dieſe nicht zu verbergende Behauptung nicht recht eingeſtanden hat, er ſcheint ſogar einige mal ſein Syſtem auf die Gedichte uͤberzutragen, einen Mei- ſterſinger anzunehmen, welcher außerdem auch noch Minnelieder gemacht habe, und dann in ſo fern kein Meiſterſaͤnger ſey 7). Aber das beſſert nichts, denn nun weiſe er dieſe gewiſſen Mei- ſterlieder her, ob ſie von den Minneliedern des naͤmlichen Dichters ſo verſchieden ausſehen 8), und iſt nicht eines ſo un- recht wie das andere, anzunehmen, entweder: es haben Zeit- genoſſen gelebt und einerlei Lieder geſungen, die einen ſind davon Meiſterſaͤnger geweſen, die andern nicht? oder: ein und derſelbe Dichter hat außer den Meiſterliedern auch noch Minnelieder gemacht, da doch beiderlei dieſelbe Foͤrmlichkeit in ſich tragen und in den Handſchriften mitten unter einander ſtehen? Darin mißverſteht mich Docen am meiſten, daß er thut, als ob ich das Weſen des Meiſtergeſangs in einige Zufaͤllig- keiten ſetze, darum weil ich dieſe mit zu Beweiſen brauche. 7) S. 453 hat er das wieder nicht angenommen, hier heißt es beſtimmt, die ſieben Wartburger Dichter ſeyen keine Minneſaͤn- ger. S. 454 ſcheinen ſie wieder: „nicht bloß Minneſinger.“ 8) Es iſt damit ganz anders, als wenn der Meiſterſaͤnger Sachs auch andere Gedichte ſchreibt, die keiner fuͤr Meiſterſaͤnge haͤlt, und ich auch nicht, oder wenn die alten Meiſter in unver- ſchlungenen Reimen lange Romane.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/28>, abgerufen am 03.12.2024.