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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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in Varietäten entfaltet, nur leiser und loser überall, zugleich
dem Vorhergehenden doch anhängender, wie der Meisterge-
sang, der auf einmal aus dem Grund der Poesie in aller
Pracht der Faden und Kelche aufschoß, dann bei falscher
Hege und Pflege im gröberen Erdreich ausging, niemals
aber einen so kühlen Wald beisammenstehender Bäume des
Volksgesangs gebildet hat, der in Wind und Wetter lange
Zeiten hinhält, so genug er in den letzten aus- und zu
schanden gehauen worden ist.
Vermuthungen über die Formen des Meistergesanges
haben weit behutsamer zu gehen, weil seine Varietäten weit
bedächtiger erscheinen, deßhalb ich mich gehütet habe, die
große Anzahl so später, als früher Meistertöne von sechs
Reimen (und sieben Zeilen) hier in Vergleichung zu zieben.
Auf jeden Fall sind sich das Studium der volksmäßigen und
meisterlichen Poesie einander unentbehrlich.
S. 64. Z. 2. ist zwar die Herleitung des deutschen Wortes
Leich aus den französischen lais und den Leisen richtig ver-
worfen worden. Wegen der Zusammenstellung der beiden
letzten Ausdrücke könnte man indessen glauben, daß ich sie
für einerlei halte, da sie doch Form und Sache nach durch-
aus nichts gemein haben. Leisen bedeutet immer einen
geistlichen Gesang, den man öffentlich und gesellschaftlich in
Noth und Gefahr etc. anstimmt und worin ursprünglich we-
nigstens das Kyrie eleison wörtlich vorgekommen seyn wird.
(Die Beweisstellen sind: Herzog Ernst v. 1924. 2158. 3070.
4538 -- 4544. 4759. vergl. 2294. 3166. 3582, wo so gar
einigemal die ganze Litanei eingerückt ist, eine andere, äl-
tere steht in Docen Misc. 1. S. 4.) Weder mit Lied
noch Leich hängen also diese Leisen zusammen. Die lais hin-
gegen, (im Singular besser lai ohne s zu schreiben, obgleich
letzteres mißbräuchlich) so gewiß aus ihnen nicht unser Leich
gekommen ist (schon im alten Gloßar, Docen Misc. 1.
in Varietaͤten entfaltet, nur leiſer und loſer uͤberall, zugleich
dem Vorhergehenden doch anhaͤngender, wie der Meiſterge-
ſang, der auf einmal aus dem Grund der Poeſie in aller
Pracht der Faden und Kelche aufſchoß, dann bei falſcher
Hege und Pflege im groͤberen Erdreich ausging, niemals
aber einen ſo kuͤhlen Wald beiſammenſtehender Baͤume des
Volksgeſangs gebildet hat, der in Wind und Wetter lange
Zeiten hinhaͤlt, ſo genug er in den letzten aus- und zu
ſchanden gehauen worden iſt.
Vermuthungen uͤber die Formen des Meiſtergeſanges
haben weit behutſamer zu gehen, weil ſeine Varietaͤten weit
bedaͤchtiger erſcheinen, deßhalb ich mich gehuͤtet habe, die
große Anzahl ſo ſpaͤter, als fruͤher Meiſtertoͤne von ſechs
Reimen (und ſieben Zeilen) hier in Vergleichung zu zieben.
Auf jeden Fall ſind ſich das Studium der volksmaͤßigen und
meiſterlichen Poeſie einander unentbehrlich.
S. 64. Z. 2. iſt zwar die Herleitung des deutſchen Wortes
Leich aus den franzoͤſiſchen lais und den Leiſen richtig ver-
worfen worden. Wegen der Zuſammenſtellung der beiden
letzten Ausdruͤcke koͤnnte man indeſſen glauben, daß ich ſie
fuͤr einerlei halte, da ſie doch Form und Sache nach durch-
aus nichts gemein haben. Leiſen bedeutet immer einen
geiſtlichen Geſang, den man oͤffentlich und geſellſchaftlich in
Noth und Gefahr ꝛc. anſtimmt und worin urſpruͤnglich we-
nigſtens das Kyrie eleiſon woͤrtlich vorgekommen ſeyn wird.
(Die Beweisſtellen ſind: Herzog Ernſt v. 1924. 2158. 3070.
4538 — 4544. 4759. vergl. 2294. 3166. 3582, wo ſo gar
einigemal die ganze Litanei eingeruͤckt iſt, eine andere, aͤl-
tere ſteht in Docen Miſc. 1. S. 4.) Weder mit Lied
noch Leich haͤngen alſo dieſe Leiſen zuſammen. Die lais hin-
gegen, (im Singular beſſer lai ohne s zu ſchreiben, obgleich
letzteres mißbraͤuchlich) ſo gewiß aus ihnen nicht unſer Leich
gekommen iſt (ſchon im alten Gloßar, Docen Miſc. 1.
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[181/0191] in Varietaͤten entfaltet, nur leiſer und loſer uͤberall, zugleich dem Vorhergehenden doch anhaͤngender, wie der Meiſterge- ſang, der auf einmal aus dem Grund der Poeſie in aller Pracht der Faden und Kelche aufſchoß, dann bei falſcher Hege und Pflege im groͤberen Erdreich ausging, niemals aber einen ſo kuͤhlen Wald beiſammenſtehender Baͤume des Volksgeſangs gebildet hat, der in Wind und Wetter lange Zeiten hinhaͤlt, ſo genug er in den letzten aus- und zu ſchanden gehauen worden iſt. Vermuthungen uͤber die Formen des Meiſtergeſanges haben weit behutſamer zu gehen, weil ſeine Varietaͤten weit bedaͤchtiger erſcheinen, deßhalb ich mich gehuͤtet habe, die große Anzahl ſo ſpaͤter, als fruͤher Meiſtertoͤne von ſechs Reimen (und ſieben Zeilen) hier in Vergleichung zu zieben. Auf jeden Fall ſind ſich das Studium der volksmaͤßigen und meiſterlichen Poeſie einander unentbehrlich. S. 64. Z. 2. iſt zwar die Herleitung des deutſchen Wortes Leich aus den franzoͤſiſchen lais und den Leiſen richtig ver- worfen worden. Wegen der Zuſammenſtellung der beiden letzten Ausdruͤcke koͤnnte man indeſſen glauben, daß ich ſie fuͤr einerlei halte, da ſie doch Form und Sache nach durch- aus nichts gemein haben. Leiſen bedeutet immer einen geiſtlichen Geſang, den man oͤffentlich und geſellſchaftlich in Noth und Gefahr ꝛc. anſtimmt und worin urſpruͤnglich we- nigſtens das Kyrie eleiſon woͤrtlich vorgekommen ſeyn wird. (Die Beweisſtellen ſind: Herzog Ernſt v. 1924. 2158. 3070. 4538 — 4544. 4759. vergl. 2294. 3166. 3582, wo ſo gar einigemal die ganze Litanei eingeruͤckt iſt, eine andere, aͤl- tere ſteht in Docen Miſc. 1. S. 4.) Weder mit Lied noch Leich haͤngen alſo dieſe Leiſen zuſammen. Die lais hin- gegen, (im Singular beſſer lai ohne s zu ſchreiben, obgleich letzteres mißbraͤuchlich) ſo gewiß aus ihnen nicht unſer Leich gekommen iſt (ſchon im alten Gloßar, Docen Miſc. 1.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/191>, abgerufen am 22.11.2024.