Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.all ihre Kraft überziehen und aufzehren. Der ewig lebendige Diese Ansicht müßte gleichwohl falsch seyn, wenn sie nicht 140) Das Volkslied: sur le pont d'Avignon ist z. B. herrlich und
den besten deutschen im W. H. vergleichbar; aber eine ganze solche Sammlung könnte man in Frankreich nicht zu Stande bringen. all ihre Kraft uͤberziehen und aufzehren. Der ewig lebendige Dieſe Anſicht muͤßte gleichwohl falſch ſeyn, wenn ſie nicht 140) Das Volkslied: sur le pont d’Avignon iſt z. B. herrlich und
den beſten deutſchen im W. H. vergleichbar; aber eine ganze ſolche Sammlung koͤnnte man in Frankreich nicht zu Stande bringen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0152" n="142"/> all ihre Kraft uͤberziehen und aufzehren. Der ewig lebendige<lb/> Volksgeſang ſtand als eigentlicher Gegenſatz des meiſterlichen<lb/> daneben.</p><lb/> <p>Dieſe Anſicht muͤßte gleichwohl falſch ſeyn, wenn ſie nicht<lb/> auch auf die Geſchichte anderer Voͤlker angewendet werden<lb/> koͤnnte, nur iſt damit lange nicht geſagt, daß ſich bei irgend ei-<lb/> nem die beiden Erſcheinungen ſo rein geloͤſt und ſo gruͤndlich<lb/> ausgeſprochen haͤtten, als unter dem deutſchen Stamm. Es<lb/> ſteht außer allem Zweifel, daß die Franzoſen z. B. keine Hel-<lb/> denlieder, gleich unſeren, je gehabt, denn ſie wuͤrden ſich nicht<lb/> ganz ohne Spur verloren haben, und noch jetzo muͤßte dort<lb/> unter dem Ganzen des gemeinen Volks eine viel reichere Volks-<lb/> poeſie zuruͤckbleiben, als ſie angetroffen wird, ſo ungerecht es<lb/> wieder waͤre, ihnen einzelne Faͤlle <note place="foot" n="140)">Das Volkslied: <hi rendition="#aq">sur le pont d’Avignon</hi> iſt z. B. herrlich und<lb/> den beſten deutſchen im W. H. vergleichbar; aber eine ganze<lb/> ſolche Sammlung koͤnnte man in Frankreich nicht zu Stande<lb/> bringen.</note> abſtreiten zu wollen.<lb/> Mehr indeſſen liegt es mir hier ob, darzuthun, daß auch aus-<lb/> laͤudiſche Kunſtpoeſie nirgendwo ſo eigenthuͤmlich gebluͤht und<lb/> gewurzelt habe, als auf unſerm Boden. Damit der Irrthum<lb/> verſchwinde, als ſey die deutſche gar aus fremder Quelle oder<lb/> Anregung entſprungen. Zu einer ſolchen Unterſuchung fehlen<lb/> freilich, ohne unſere Schuld, faſt alle Huͤlfsmittel, wodurch<lb/> die Darſtellung, indem ſie ſich auf das Einzelne einlaſſen<lb/> koͤnnte, anſchaulicher und ſicherer gehen wuͤrde. Wir haben je-<lb/> doch von der Zukunft alle Beſtaͤtigung einer ziemlich unzweifel-<lb/> haften Sache zu erwarten und wenig Widerlegung zu befuͤrch-<lb/> ten. Ich will hier keine vollſtaͤndige Anſicht der fremden Dicht-<lb/> kunſt geben, ſondern nur die Seiten ausheben, welche man<lb/> mit dem Characteriſtiſchen des Meiſtergeſangs fuͤglich zuſam-<lb/> men halten kann.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [142/0152]
all ihre Kraft uͤberziehen und aufzehren. Der ewig lebendige
Volksgeſang ſtand als eigentlicher Gegenſatz des meiſterlichen
daneben.
Dieſe Anſicht muͤßte gleichwohl falſch ſeyn, wenn ſie nicht
auch auf die Geſchichte anderer Voͤlker angewendet werden
koͤnnte, nur iſt damit lange nicht geſagt, daß ſich bei irgend ei-
nem die beiden Erſcheinungen ſo rein geloͤſt und ſo gruͤndlich
ausgeſprochen haͤtten, als unter dem deutſchen Stamm. Es
ſteht außer allem Zweifel, daß die Franzoſen z. B. keine Hel-
denlieder, gleich unſeren, je gehabt, denn ſie wuͤrden ſich nicht
ganz ohne Spur verloren haben, und noch jetzo muͤßte dort
unter dem Ganzen des gemeinen Volks eine viel reichere Volks-
poeſie zuruͤckbleiben, als ſie angetroffen wird, ſo ungerecht es
wieder waͤre, ihnen einzelne Faͤlle 140) abſtreiten zu wollen.
Mehr indeſſen liegt es mir hier ob, darzuthun, daß auch aus-
laͤudiſche Kunſtpoeſie nirgendwo ſo eigenthuͤmlich gebluͤht und
gewurzelt habe, als auf unſerm Boden. Damit der Irrthum
verſchwinde, als ſey die deutſche gar aus fremder Quelle oder
Anregung entſprungen. Zu einer ſolchen Unterſuchung fehlen
freilich, ohne unſere Schuld, faſt alle Huͤlfsmittel, wodurch
die Darſtellung, indem ſie ſich auf das Einzelne einlaſſen
koͤnnte, anſchaulicher und ſicherer gehen wuͤrde. Wir haben je-
doch von der Zukunft alle Beſtaͤtigung einer ziemlich unzweifel-
haften Sache zu erwarten und wenig Widerlegung zu befuͤrch-
ten. Ich will hier keine vollſtaͤndige Anſicht der fremden Dicht-
kunſt geben, ſondern nur die Seiten ausheben, welche man
mit dem Characteriſtiſchen des Meiſtergeſangs fuͤglich zuſam-
men halten kann.
140) Das Volkslied: sur le pont d’Avignon iſt z. B. herrlich und
den beſten deutſchen im W. H. vergleichbar; aber eine ganze
ſolche Sammlung koͤnnte man in Frankreich nicht zu Stande
bringen.
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