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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

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wird. Gib mir auch das Betttuch, so will ich die Leiche einhüllen und ihn nicht wie einen Hund verscharren.' Die Gräfin gab ihm das Tuch. 'Weißt du was,' sagte der Dieb weiter, 'ich habe eine Anwandlung von Großmuth, gib mir noch den Ring; der Unglückliche hat sein Leben gewagt, so mag er ihn ins Grab mitnehmen.' Sie wollte dem Grafen nicht entgegen sein, und obgleich sie es ungern that, so zog sie doch den Ring vom Finger und reichte ihn hin. Der Dieb machte sich mit beiden Stücken fort und kam glücklich nach Haus, bevor der Graf im Garten mit seiner Todtengräberarbeit fertig war.

Was zog der Graf für ein langes Gesicht, als am andern Morgen der Meister kam und ihm das Betttuch und den Ring brachte. 'Kannst du hexen?' sagte er zu ihm, 'wer hat dich aus dem Grab geholt, in das ich selbst dich gelegt habe, und hat dich wieder lebendig gemacht?' 'Mich habt ihr nicht begraben,' sagte der Dieb, 'sondern den armen Sünder am Galgen' und erzählte ausführlich wie es zugegangen war; und der Graf mußte ihm zugestehen daß er ein gescheidter und listiger Dieb wäre. 'Aber noch bist du nicht zu Ende,' setzte er hinzu, 'du hast noch die dritte Aufgabe zu lösen, und wenn dir das nicht gelingt, so hilft dir alles nichts.' Der Meister lächelte und gab keine Antwort.

Als die Nacht eingebrochen war, kam er mit einem langen Sack auf dem Rücken, einem Bündel unter dem Arm, und einer Laterne in der Hand zu der Dorfkirche gegangen. Jn dem Sack hatte er Krebse, in dem Bündel aber kurze Wachslichter. Er setzte sich auf den Gottesacker, holte einen Krebs heraus und klebte ihm ein Wachslichtchen auf den Rücken; dann zündete er das Lichtchen an, setzte den Krebs auf den Boden und ließ ihn kriechen. Er holte einen zweiten aus dem Sack, machte es mit diesem ebenso und fuhr fort bis auch der letzte aus dem Sacke war. Hierauf zog er ein langes schwarzes Gewand an, das wie eine Mönchskutte

wird. Gib mir auch das Betttuch, so will ich die Leiche einhüllen und ihn nicht wie einen Hund verscharren.’ Die Gräfin gab ihm das Tuch. ‘Weißt du was,’ sagte der Dieb weiter, ‘ich habe eine Anwandlung von Großmuth, gib mir noch den Ring; der Unglückliche hat sein Leben gewagt, so mag er ihn ins Grab mitnehmen.’ Sie wollte dem Grafen nicht entgegen sein, und obgleich sie es ungern that, so zog sie doch den Ring vom Finger und reichte ihn hin. Der Dieb machte sich mit beiden Stücken fort und kam glücklich nach Haus, bevor der Graf im Garten mit seiner Todtengräberarbeit fertig war.

Was zog der Graf für ein langes Gesicht, als am andern Morgen der Meister kam und ihm das Betttuch und den Ring brachte. ‘Kannst du hexen?’ sagte er zu ihm, ‘wer hat dich aus dem Grab geholt, in das ich selbst dich gelegt habe, und hat dich wieder lebendig gemacht?’ ‘Mich habt ihr nicht begraben,’ sagte der Dieb, ‘sondern den armen Sünder am Galgen’ und erzählte ausführlich wie es zugegangen war; und der Graf mußte ihm zugestehen daß er ein gescheidter und listiger Dieb wäre. ‘Aber noch bist du nicht zu Ende,’ setzte er hinzu, ‘du hast noch die dritte Aufgabe zu lösen, und wenn dir das nicht gelingt, so hilft dir alles nichts.’ Der Meister lächelte und gab keine Antwort.

Als die Nacht eingebrochen war, kam er mit einem langen Sack auf dem Rücken, einem Bündel unter dem Arm, und einer Laterne in der Hand zu der Dorfkirche gegangen. Jn dem Sack hatte er Krebse, in dem Bündel aber kurze Wachslichter. Er setzte sich auf den Gottesacker, holte einen Krebs heraus und klebte ihm ein Wachslichtchen auf den Rücken; dann zündete er das Lichtchen an, setzte den Krebs auf den Boden und ließ ihn kriechen. Er holte einen zweiten aus dem Sack, machte es mit diesem ebenso und fuhr fort bis auch der letzte aus dem Sacke war. Hierauf zog er ein langes schwarzes Gewand an, das wie eine Mönchskutte

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[424/0436] wird. Gib mir auch das Betttuch, so will ich die Leiche einhüllen und ihn nicht wie einen Hund verscharren.’ Die Gräfin gab ihm das Tuch. ‘Weißt du was,’ sagte der Dieb weiter, ‘ich habe eine Anwandlung von Großmuth, gib mir noch den Ring; der Unglückliche hat sein Leben gewagt, so mag er ihn ins Grab mitnehmen.’ Sie wollte dem Grafen nicht entgegen sein, und obgleich sie es ungern that, so zog sie doch den Ring vom Finger und reichte ihn hin. Der Dieb machte sich mit beiden Stücken fort und kam glücklich nach Haus, bevor der Graf im Garten mit seiner Todtengräberarbeit fertig war. Was zog der Graf für ein langes Gesicht, als am andern Morgen der Meister kam und ihm das Betttuch und den Ring brachte. ‘Kannst du hexen?’ sagte er zu ihm, ‘wer hat dich aus dem Grab geholt, in das ich selbst dich gelegt habe, und hat dich wieder lebendig gemacht?’ ‘Mich habt ihr nicht begraben,’ sagte der Dieb, ‘sondern den armen Sünder am Galgen’ und erzählte ausführlich wie es zugegangen war; und der Graf mußte ihm zugestehen daß er ein gescheidter und listiger Dieb wäre. ‘Aber noch bist du nicht zu Ende,’ setzte er hinzu, ‘du hast noch die dritte Aufgabe zu lösen, und wenn dir das nicht gelingt, so hilft dir alles nichts.’ Der Meister lächelte und gab keine Antwort. Als die Nacht eingebrochen war, kam er mit einem langen Sack auf dem Rücken, einem Bündel unter dem Arm, und einer Laterne in der Hand zu der Dorfkirche gegangen. Jn dem Sack hatte er Krebse, in dem Bündel aber kurze Wachslichter. Er setzte sich auf den Gottesacker, holte einen Krebs heraus und klebte ihm ein Wachslichtchen auf den Rücken; dann zündete er das Lichtchen an, setzte den Krebs auf den Boden und ließ ihn kriechen. Er holte einen zweiten aus dem Sack, machte es mit diesem ebenso und fuhr fort bis auch der letzte aus dem Sacke war. Hierauf zog er ein langes schwarzes Gewand an, das wie eine Mönchskutte

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/436>, abgerufen am 02.05.2024.