Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.174. Die Eule. Vor ein paar hundert Jahren, als die Leute noch lange nicht so klug und verschmitzt waren, als sie heutzutage sind, hat sich in einer kleinen Stadt eine seltsame Geschichte zugetragen. Von Ungefähr war eine von den großen Eulen, die man Schuhu nennt, aus dem benachbarten Walde bei nächtlicher Weile in die Scheuer eines Bürgers gerathen und wagte sich, als der Tag anbrach, aus Furcht vor den andern Vögeln, die wenn sie sich blicken läßt, ein furchtbares Geschrei erheben, nicht wieder aus ihrem Schlupfwinkel heraus. Als nun der Hausknecht Morgens in die Scheuer kam um Stroh zu holen, erschrack er bei dem Anblick der Eule, die da in einer Ecke saß, so gewaltig, daß er fortlief und seinem Herrn ankündigte ein Ungeheuer, wie er Zeit seines Lebens keins erblickt hätte, säße in der Scheuer, drehte die Augen im Kopf herum und könnte einen ohne Umstände verschlingen. 'Jch kenne dich schon,' sagte der Herr, 'einer Amsel im Felde nachzujagen, dazu hast du Muth genug, aber wenn du ein todtes Huhn liegen siehst, so holst du dir erst einen Stock, ehe du ihm nahe kommst. Jch muß nur selbst einmal nachsehen was das für ein Ungeheuer ist' setzte der Herr hinzu, gieng ganz tapfer zur Scheuer hinein und blickte umher. Als er aber das seltsame und greuliche Thier mit eigenen Augen sah, so gerieth er in nicht geringere Angst als der Knecht. Mit ein paar Sätzen sprang er hinaus, lief zu seinen Nachbarn und bat sie flehentlich ihm gegen ein unbekanntes und gefährliches Thier Beistand zu leisten; ohnehin könnte die ganze Stadt in Gefahr 174. Die Eule. Vor ein paar hundert Jahren, als die Leute noch lange nicht so klug und verschmitzt waren, als sie heutzutage sind, hat sich in einer kleinen Stadt eine seltsame Geschichte zugetragen. Von Ungefähr war eine von den großen Eulen, die man Schuhu nennt, aus dem benachbarten Walde bei nächtlicher Weile in die Scheuer eines Bürgers gerathen und wagte sich, als der Tag anbrach, aus Furcht vor den andern Vögeln, die wenn sie sich blicken läßt, ein furchtbares Geschrei erheben, nicht wieder aus ihrem Schlupfwinkel heraus. Als nun der Hausknecht Morgens in die Scheuer kam um Stroh zu holen, erschrack er bei dem Anblick der Eule, die da in einer Ecke saß, so gewaltig, daß er fortlief und seinem Herrn ankündigte ein Ungeheuer, wie er Zeit seines Lebens keins erblickt hätte, säße in der Scheuer, drehte die Augen im Kopf herum und könnte einen ohne Umstände verschlingen. ‘Jch kenne dich schon,’ sagte der Herr, ‘einer Amsel im Felde nachzujagen, dazu hast du Muth genug, aber wenn du ein todtes Huhn liegen siehst, so holst du dir erst einen Stock, ehe du ihm nahe kommst. Jch muß nur selbst einmal nachsehen was das für ein Ungeheuer ist’ setzte der Herr hinzu, gieng ganz tapfer zur Scheuer hinein und blickte umher. Als er aber das seltsame und greuliche Thier mit eigenen Augen sah, so gerieth er in nicht geringere Angst als der Knecht. Mit ein paar Sätzen sprang er hinaus, lief zu seinen Nachbarn und bat sie flehentlich ihm gegen ein unbekanntes und gefährliches Thier Beistand zu leisten; ohnehin könnte die ganze Stadt in Gefahr <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0360" n="348"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">174.<lb/> Die Eule.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">V</hi>or ein paar hundert Jahren, als die Leute noch lange nicht so klug und verschmitzt waren, als sie heutzutage sind, hat sich in einer kleinen Stadt eine seltsame Geschichte zugetragen. Von Ungefähr war eine von den großen Eulen, die man Schuhu nennt, aus dem benachbarten Walde bei nächtlicher Weile in die Scheuer eines Bürgers gerathen und wagte sich, als der Tag anbrach, aus Furcht vor den andern Vögeln, die wenn sie sich blicken läßt, ein furchtbares Geschrei erheben, nicht wieder aus ihrem Schlupfwinkel heraus. Als nun der Hausknecht Morgens in die Scheuer kam um Stroh zu holen, erschrack er bei dem Anblick der Eule, die da in einer Ecke saß, so gewaltig, daß er fortlief und seinem Herrn ankündigte ein Ungeheuer, wie er Zeit seines Lebens keins erblickt hätte, säße in der Scheuer, drehte die Augen im Kopf herum und könnte einen ohne Umstände verschlingen. ‘Jch kenne dich schon,’ sagte der Herr, ‘einer Amsel im Felde nachzujagen, dazu hast du Muth genug, aber wenn du ein todtes Huhn liegen siehst, so holst du dir erst einen Stock, ehe du ihm nahe kommst. Jch muß nur selbst einmal nachsehen was das für ein Ungeheuer ist’ setzte der Herr hinzu, gieng ganz tapfer zur Scheuer hinein und blickte umher. Als er aber das seltsame und greuliche Thier mit eigenen Augen sah, so gerieth er in nicht geringere Angst als der Knecht. Mit ein paar Sätzen sprang er hinaus, lief zu seinen Nachbarn und bat sie flehentlich ihm gegen ein unbekanntes und gefährliches Thier Beistand zu leisten; ohnehin könnte die ganze Stadt in Gefahr </p> </div> </body> </text> </TEI> [348/0360]
174.
Die Eule.
Vor ein paar hundert Jahren, als die Leute noch lange nicht so klug und verschmitzt waren, als sie heutzutage sind, hat sich in einer kleinen Stadt eine seltsame Geschichte zugetragen. Von Ungefähr war eine von den großen Eulen, die man Schuhu nennt, aus dem benachbarten Walde bei nächtlicher Weile in die Scheuer eines Bürgers gerathen und wagte sich, als der Tag anbrach, aus Furcht vor den andern Vögeln, die wenn sie sich blicken läßt, ein furchtbares Geschrei erheben, nicht wieder aus ihrem Schlupfwinkel heraus. Als nun der Hausknecht Morgens in die Scheuer kam um Stroh zu holen, erschrack er bei dem Anblick der Eule, die da in einer Ecke saß, so gewaltig, daß er fortlief und seinem Herrn ankündigte ein Ungeheuer, wie er Zeit seines Lebens keins erblickt hätte, säße in der Scheuer, drehte die Augen im Kopf herum und könnte einen ohne Umstände verschlingen. ‘Jch kenne dich schon,’ sagte der Herr, ‘einer Amsel im Felde nachzujagen, dazu hast du Muth genug, aber wenn du ein todtes Huhn liegen siehst, so holst du dir erst einen Stock, ehe du ihm nahe kommst. Jch muß nur selbst einmal nachsehen was das für ein Ungeheuer ist’ setzte der Herr hinzu, gieng ganz tapfer zur Scheuer hinein und blickte umher. Als er aber das seltsame und greuliche Thier mit eigenen Augen sah, so gerieth er in nicht geringere Angst als der Knecht. Mit ein paar Sätzen sprang er hinaus, lief zu seinen Nachbarn und bat sie flehentlich ihm gegen ein unbekanntes und gefährliches Thier Beistand zu leisten; ohnehin könnte die ganze Stadt in Gefahr
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Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/360>, abgerufen am 16.07.2024. |