Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843.Arbeit, und spann weiter. Da kam ihm ein Spruch in den Sinn, den die Alte manchmal gesagt hatte, wenn es bei der Arbeit saß, und es sang so vor sich hin 'Spindel, Spindel, geh du aus, bring den Freier zu Haus.' Was geschah? Kaum war der Spruch gesagt, so sprang ihm die Spindel aus der Hand, und zur Thüre hinaus: und als es voll Verwunderung aufstand, und ihr nachblickte, so sah es daß die Spindel lustig in das Feld hinein tanzte, und einen glänzenden goldenen Faden hinter sich herzog. Nicht lange, so war sie ihm aus den Augen entschwunden. Das Mädchen, da es keine Spindel mehr hatte, nahm das Weberschiffchen in die Hand, setzte sich an den Webstuhl, und fieng an zu weben. Die Spindel aber tanzte immer weiter, und eben als der Faden zu Ende war, hatte sie den Königssohn erreicht. 'Was sehe ich?' rief er, 'die Spindel will mir wohl den Weg zeigen?' drehte sein Pferd um, und ritt an dem goldenen Faden zurück. Das Mädchen aber saß an seiner Arbeit und sang 'Schiffchen, Schiffchen, webe fein, führ den Freier mir herein.' Alsbald sprang ihr das Schiffchen aus der Hand und sprang zur Thüre hinaus. Vor der Thürschwelle aber fieng es an einen Teppich zu weben, schöner als man je einen gesehen hat. Auf beiden Seiten blühten Rosen und Lilien, und in der Mitte auf goldenem Grund stiegen grüne Ranken herauf, darin sprangen Hasen und Kaninchen: Hirsche und Rehe streckten die Köpfe dazwischen: oben in den Zweigen saßen bunte Vögel; es fehlte nichts Arbeit, und spann weiter. Da kam ihm ein Spruch in den Sinn, den die Alte manchmal gesagt hatte, wenn es bei der Arbeit saß, und es sang so vor sich hin ‘Spindel, Spindel, geh du aus, bring den Freier zu Haus.’ Was geschah? Kaum war der Spruch gesagt, so sprang ihm die Spindel aus der Hand, und zur Thüre hinaus: und als es voll Verwunderung aufstand, und ihr nachblickte, so sah es daß die Spindel lustig in das Feld hinein tanzte, und einen glänzenden goldenen Faden hinter sich herzog. Nicht lange, so war sie ihm aus den Augen entschwunden. Das Mädchen, da es keine Spindel mehr hatte, nahm das Weberschiffchen in die Hand, setzte sich an den Webstuhl, und fieng an zu weben. Die Spindel aber tanzte immer weiter, und eben als der Faden zu Ende war, hatte sie den Königssohn erreicht. ‘Was sehe ich?’ rief er, ‘die Spindel will mir wohl den Weg zeigen?’ drehte sein Pferd um, und ritt an dem goldenen Faden zurück. Das Mädchen aber saß an seiner Arbeit und sang ‘Schiffchen, Schiffchen, webe fein, führ den Freier mir herein.’ Alsbald sprang ihr das Schiffchen aus der Hand und sprang zur Thüre hinaus. Vor der Thürschwelle aber fieng es an einen Teppich zu weben, schöner als man je einen gesehen hat. Auf beiden Seiten blühten Rosen und Lilien, und in der Mitte auf goldenem Grund stiegen grüne Ranken herauf, darin sprangen Hasen und Kaninchen: Hirsche und Rehe streckten die Köpfe dazwischen: oben in den Zweigen saßen bunte Vögel; es fehlte nichts <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0473" n="463"/> Arbeit, und spann weiter. Da kam ihm ein Spruch in den Sinn, den die Alte manchmal gesagt hatte, wenn es bei der Arbeit saß, und es sang so vor sich hin</p><lb/> <lg type="poem"> <l>‘Spindel, Spindel, geh du aus,</l><lb/> <l>bring den Freier zu Haus.’</l><lb/> </lg> <p>Was geschah? Kaum war der Spruch gesagt, so sprang ihm die Spindel aus der Hand, und zur Thüre hinaus: und als es voll Verwunderung aufstand, und ihr nachblickte, so sah es daß die Spindel lustig in das Feld hinein tanzte, und einen glänzenden goldenen Faden hinter sich herzog. Nicht lange, so war sie ihm aus den Augen entschwunden. Das Mädchen, da es keine Spindel mehr hatte, nahm das Weberschiffchen in die Hand, setzte sich an den Webstuhl, und fieng an zu weben.</p><lb/> <p>Die Spindel aber tanzte immer weiter, und eben als der Faden zu Ende war, hatte sie den Königssohn erreicht. ‘Was sehe ich?’ rief er, ‘die Spindel will mir wohl den Weg zeigen?’ drehte sein Pferd um, und ritt an dem goldenen Faden zurück. Das Mädchen aber saß an seiner Arbeit und sang</p><lb/> <lg type="poem"> <l>‘Schiffchen, Schiffchen, webe fein,</l><lb/> <l>führ den Freier mir herein.’</l><lb/> </lg> <p>Alsbald sprang ihr das Schiffchen aus der Hand und sprang zur Thüre hinaus. Vor der Thürschwelle aber fieng es an einen Teppich zu weben, schöner als man je einen gesehen hat. Auf beiden Seiten blühten Rosen und Lilien, und in der Mitte auf goldenem Grund stiegen grüne Ranken herauf, darin sprangen Hasen und Kaninchen: Hirsche und Rehe streckten die Köpfe dazwischen: oben in den Zweigen saßen bunte Vögel; es fehlte nichts </p> </div> </body> </text> </TEI> [463/0473]
Arbeit, und spann weiter. Da kam ihm ein Spruch in den Sinn, den die Alte manchmal gesagt hatte, wenn es bei der Arbeit saß, und es sang so vor sich hin
‘Spindel, Spindel, geh du aus,
bring den Freier zu Haus.’
Was geschah? Kaum war der Spruch gesagt, so sprang ihm die Spindel aus der Hand, und zur Thüre hinaus: und als es voll Verwunderung aufstand, und ihr nachblickte, so sah es daß die Spindel lustig in das Feld hinein tanzte, und einen glänzenden goldenen Faden hinter sich herzog. Nicht lange, so war sie ihm aus den Augen entschwunden. Das Mädchen, da es keine Spindel mehr hatte, nahm das Weberschiffchen in die Hand, setzte sich an den Webstuhl, und fieng an zu weben.
Die Spindel aber tanzte immer weiter, und eben als der Faden zu Ende war, hatte sie den Königssohn erreicht. ‘Was sehe ich?’ rief er, ‘die Spindel will mir wohl den Weg zeigen?’ drehte sein Pferd um, und ritt an dem goldenen Faden zurück. Das Mädchen aber saß an seiner Arbeit und sang
‘Schiffchen, Schiffchen, webe fein,
führ den Freier mir herein.’
Alsbald sprang ihr das Schiffchen aus der Hand und sprang zur Thüre hinaus. Vor der Thürschwelle aber fieng es an einen Teppich zu weben, schöner als man je einen gesehen hat. Auf beiden Seiten blühten Rosen und Lilien, und in der Mitte auf goldenem Grund stiegen grüne Ranken herauf, darin sprangen Hasen und Kaninchen: Hirsche und Rehe streckten die Köpfe dazwischen: oben in den Zweigen saßen bunte Vögel; es fehlte nichts
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2015-05-11T18:40:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-06-01T16:12:00Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |