Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843.vom großen Durst. Wollen wir zusammen wandern?' 'Mir ists recht,' antwortete der Schneider, 'wenn du nur Lust hast in eine große Stadt zu gehen, wo es nicht an Arbeit fehlt.' 'Gerade dahin wollte ich auch,' antwortete der Schuster, 'in einem kleinen Nest ist nichts zu verdienen, und auf dem Lande gehen die Leute lieber barfuß.' Sie wanderten also zusammen weiter, und setzten immer einen Fuß vor den andern wie die Wiesel im Schnee. Zeit genug hatten sie beide, aber wenig zu beißen und zu brechen. Wenn sie in eine Stadt kamen, so giengen sie umher, und grüßten das Handwerk, und weil das Schneiderlein so frisch und munter aussah, und so hübsche rothe Backen hatte, so gab ihm jeder gerne, und wenn das Glück gut war, so gab ihm die Meisterstochter unter der Hausthüre auch noch einen Kuß auf den Weg. Wenn er mit dem Schuster wieder zusammen traf, so hatte er immer mehr in seinem Bündel. Der griesgrämige Schuster schnitt ein schiefes Gesicht, und meinte 'je größer der Schelm, je größer das Glück.' Aber der Schneider fieng an zu lachen und zu singen, und theilte alles, was er bekam, mit seinem Cameraden. Klingelten nun ein paar Groschen in seiner Tasche, so ließ er auftragen, schlug vor Freude auf den Tisch daß die Gläser tanzten, und es hieß bei ihm 'leicht verdient und leicht verthan.' Als sie eine Zeitlang gewandert waren, kamen sie an einen großen Wald, durch welchen der Weg nach der Königsstadt gieng. Es führten aber zwei Fußsteige hindurch, davon war der eine sieben Tage lang, der andere nur zwei Tage, aber niemand von ihnen wußte, welcher der kürzere Weg war. Die zwei Wanderer setzten sich unter vom großen Durst. Wollen wir zusammen wandern?’ ‘Mir ists recht,’ antwortete der Schneider, ‘wenn du nur Lust hast in eine große Stadt zu gehen, wo es nicht an Arbeit fehlt.’ ‘Gerade dahin wollte ich auch,’ antwortete der Schuster, ‘in einem kleinen Nest ist nichts zu verdienen, und auf dem Lande gehen die Leute lieber barfuß.’ Sie wanderten also zusammen weiter, und setzten immer einen Fuß vor den andern wie die Wiesel im Schnee. Zeit genug hatten sie beide, aber wenig zu beißen und zu brechen. Wenn sie in eine Stadt kamen, so giengen sie umher, und grüßten das Handwerk, und weil das Schneiderlein so frisch und munter aussah, und so hübsche rothe Backen hatte, so gab ihm jeder gerne, und wenn das Glück gut war, so gab ihm die Meisterstochter unter der Hausthüre auch noch einen Kuß auf den Weg. Wenn er mit dem Schuster wieder zusammen traf, so hatte er immer mehr in seinem Bündel. Der griesgrämige Schuster schnitt ein schiefes Gesicht, und meinte ‘je größer der Schelm, je größer das Glück.’ Aber der Schneider fieng an zu lachen und zu singen, und theilte alles, was er bekam, mit seinem Cameraden. Klingelten nun ein paar Groschen in seiner Tasche, so ließ er auftragen, schlug vor Freude auf den Tisch daß die Gläser tanzten, und es hieß bei ihm ‘leicht verdient und leicht verthan.’ Als sie eine Zeitlang gewandert waren, kamen sie an einen großen Wald, durch welchen der Weg nach der Königsstadt gieng. Es führten aber zwei Fußsteige hindurch, davon war der eine sieben Tage lang, der andere nur zwei Tage, aber niemand von ihnen wußte, welcher der kürzere Weg war. Die zwei Wanderer setzten sich unter <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0129" n="119"/> vom großen Durst. 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Der griesgrämige Schuster schnitt ein schiefes Gesicht, und meinte ‘je größer der Schelm, je größer das Glück.’ Aber der Schneider fieng an zu lachen und zu singen, und theilte alles, was er bekam, mit seinem Cameraden. Klingelten nun ein paar Groschen in seiner Tasche, so ließ er auftragen, schlug vor Freude auf den Tisch daß die Gläser tanzten, und es hieß bei ihm ‘leicht verdient und leicht verthan.’</p><lb/> <p>Als sie eine Zeitlang gewandert waren, kamen sie an einen großen Wald, durch welchen der Weg nach der Königsstadt gieng. Es führten aber zwei Fußsteige hindurch, davon war der eine sieben Tage lang, der andere nur zwei Tage, aber niemand von ihnen wußte, welcher der kürzere Weg war. Die zwei Wanderer setzten sich unter </p> </div> </body> </text> </TEI> [119/0129]
vom großen Durst. Wollen wir zusammen wandern?’ ‘Mir ists recht,’ antwortete der Schneider, ‘wenn du nur Lust hast in eine große Stadt zu gehen, wo es nicht an Arbeit fehlt.’ ‘Gerade dahin wollte ich auch,’ antwortete der Schuster, ‘in einem kleinen Nest ist nichts zu verdienen, und auf dem Lande gehen die Leute lieber barfuß.’ Sie wanderten also zusammen weiter, und setzten immer einen Fuß vor den andern wie die Wiesel im Schnee.
Zeit genug hatten sie beide, aber wenig zu beißen und zu brechen. Wenn sie in eine Stadt kamen, so giengen sie umher, und grüßten das Handwerk, und weil das Schneiderlein so frisch und munter aussah, und so hübsche rothe Backen hatte, so gab ihm jeder gerne, und wenn das Glück gut war, so gab ihm die Meisterstochter unter der Hausthüre auch noch einen Kuß auf den Weg. Wenn er mit dem Schuster wieder zusammen traf, so hatte er immer mehr in seinem Bündel. Der griesgrämige Schuster schnitt ein schiefes Gesicht, und meinte ‘je größer der Schelm, je größer das Glück.’ Aber der Schneider fieng an zu lachen und zu singen, und theilte alles, was er bekam, mit seinem Cameraden. Klingelten nun ein paar Groschen in seiner Tasche, so ließ er auftragen, schlug vor Freude auf den Tisch daß die Gläser tanzten, und es hieß bei ihm ‘leicht verdient und leicht verthan.’
Als sie eine Zeitlang gewandert waren, kamen sie an einen großen Wald, durch welchen der Weg nach der Königsstadt gieng. Es führten aber zwei Fußsteige hindurch, davon war der eine sieben Tage lang, der andere nur zwei Tage, aber niemand von ihnen wußte, welcher der kürzere Weg war. Die zwei Wanderer setzten sich unter
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