Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

noch nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals hätte hören lassen. Sie forderte ihn auf sich umzukehren, und den gegenüberstehenden Glaskasten zu beschauen. Wie stieg seine Verwunderung als er darin ein Mädchen von größter Schönheit erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange blonde Haare wie in einen kostbaren Mantel eingehüllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe, und ein Band, das der Athem hin und her bewegte, ließen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der Schneider betrachtete die Schöne mit klopfendem Herzen, als sie plötzlich die Augen aufschlug, und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr. 'Gerechter Himmel,' rief sie, 'meine Befreiung naht! geschwind, geschwind, hilf mir aus meinem Gefängnis: wenn du den Riegel an diesem gläsernen Sarge wegschiebst, so bin ich erlöst.' Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, alsbald hob sie den Glasdeckel in die Höhe, stieg heraus, und eilte in die Ecke des Saals, wo sie sich in einen weiten Mantel verhüllte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hieß den jungen Mann heran gehen, und nachdem sie einen freundlichen Kuß auf seinen Mund gedrückt hatte, sprach sie 'mein lang ersehnter Befreier, der gütige Himmel hat mich zu dir geführt, und meinen Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage, wo sie endigen, soll dein Glück beginnen. Du bist der vom Himmel mir bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen Gütern überhäuft, zu ungestörter Freude dein Leben zubringen. Sitz nieder, und höre die Erzählung meines Schicksals.

noch nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals hätte hören lassen. Sie forderte ihn auf sich umzukehren, und den gegenüberstehenden Glaskasten zu beschauen. Wie stieg seine Verwunderung als er darin ein Mädchen von größter Schönheit erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange blonde Haare wie in einen kostbaren Mantel eingehüllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe, und ein Band, das der Athem hin und her bewegte, ließen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der Schneider betrachtete die Schöne mit klopfendem Herzen, als sie plötzlich die Augen aufschlug, und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr. ‘Gerechter Himmel,’ rief sie, ‘meine Befreiung naht! geschwind, geschwind, hilf mir aus meinem Gefängnis: wenn du den Riegel an diesem gläsernen Sarge wegschiebst, so bin ich erlöst.’ Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, alsbald hob sie den Glasdeckel in die Höhe, stieg heraus, und eilte in die Ecke des Saals, wo sie sich in einen weiten Mantel verhüllte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hieß den jungen Mann heran gehen, und nachdem sie einen freundlichen Kuß auf seinen Mund gedrückt hatte, sprach sie ‘mein lang ersehnter Befreier, der gütige Himmel hat mich zu dir geführt, und meinen Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage, wo sie endigen, soll dein Glück beginnen. Du bist der vom Himmel mir bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen Gütern überhäuft, zu ungestörter Freude dein Leben zubringen. Sitz nieder, und höre die Erzählung meines Schicksals.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0358" n="337"/>
noch nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals hätte hören lassen. Sie forderte ihn auf sich umzukehren, und den gegenüberstehenden Glaskasten zu beschauen. Wie stieg seine Verwunderung als er darin ein Mädchen von größter Schönheit erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange blonde Haare wie in einen kostbaren Mantel eingehüllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe, und ein Band, das der Athem hin und her bewegte, ließen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der Schneider betrachtete die Schöne mit klopfendem Herzen, als sie plötzlich die Augen aufschlug, und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr. &#x2018;Gerechter Himmel,&#x2019; rief sie, &#x2018;meine Befreiung naht! geschwind, geschwind, hilf mir aus meinem Gefängnis: wenn du den Riegel an diesem gläsernen Sarge wegschiebst, so bin ich erlöst.&#x2019; Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, alsbald hob sie den Glasdeckel in die Höhe, stieg heraus, und eilte in die Ecke des Saals, wo sie sich in einen weiten Mantel verhüllte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hieß den jungen Mann heran gehen, und nachdem sie einen freundlichen Kuß auf seinen Mund gedrückt hatte, sprach sie &#x2018;mein lang ersehnter Befreier, der gütige Himmel hat mich zu dir geführt, und meinen Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage, wo sie endigen, soll dein Glück beginnen. Du bist der vom Himmel mir bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen Gütern überhäuft, zu ungestörter Freude dein Leben zubringen. Sitz nieder, und höre die Erzählung meines Schicksals.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[337/0358] noch nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals hätte hören lassen. Sie forderte ihn auf sich umzukehren, und den gegenüberstehenden Glaskasten zu beschauen. Wie stieg seine Verwunderung als er darin ein Mädchen von größter Schönheit erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange blonde Haare wie in einen kostbaren Mantel eingehüllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe, und ein Band, das der Athem hin und her bewegte, ließen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der Schneider betrachtete die Schöne mit klopfendem Herzen, als sie plötzlich die Augen aufschlug, und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr. ‘Gerechter Himmel,’ rief sie, ‘meine Befreiung naht! geschwind, geschwind, hilf mir aus meinem Gefängnis: wenn du den Riegel an diesem gläsernen Sarge wegschiebst, so bin ich erlöst.’ Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, alsbald hob sie den Glasdeckel in die Höhe, stieg heraus, und eilte in die Ecke des Saals, wo sie sich in einen weiten Mantel verhüllte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hieß den jungen Mann heran gehen, und nachdem sie einen freundlichen Kuß auf seinen Mund gedrückt hatte, sprach sie ‘mein lang ersehnter Befreier, der gütige Himmel hat mich zu dir geführt, und meinen Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage, wo sie endigen, soll dein Glück beginnen. Du bist der vom Himmel mir bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen Gütern überhäuft, zu ungestörter Freude dein Leben zubringen. Sitz nieder, und höre die Erzählung meines Schicksals.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-05-27T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1840/358
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1840, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1840/358>, abgerufen am 28.11.2024.