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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1840.

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und sie lasen das schönste und kostbarste zusammen. Nun hatte es aber die Alte durch ihre Hexenkunst bewirkt daß dem Jäger die Augen schwer wurden. Er sprach zu dem Mädchen 'wir wollen ein wenig niedersitzen und ruhen, ich bin so müde, daß ich mich nicht mehr auf den Füßen erhalten kann.' Da setzten sie sich, und er legte sein Haupt in ihren Schooß, und schlief ein. Wie er entschlafen war, da band es ihm den Mantel von den Schultern, und hieng ihn sich selbst um, las die Granaten und Steine auf, und wünschte sich damit nach Haus.

Als aber der Jäger seinen Schlaf ausgethan hatte, und aufwachte, sah er daß seine Liebste ihn betrogen und auf dem wilden Gebirg allein gelassen hatte. 'O,' sprach er, 'wie ist die Untreue so groß auf der Welt!' saß da in Sorg und Herzleid, und wußte nicht was er anfangen sollte. Der Berg aber gehörte wilden und ungeheuern Riesen, die darauf wohnten und ihr Wesen trieben, und wie er so saß, sah er ihrer drei daher schreiten. Da dachte er 'wie kann ich mich anders retten, als daß ich mich schlafend stelle,' und legte sich geschwind nieder, als wär er in tiefen Schlaf versunken. Nun kamen die Riesen herbei, und der erste stieß ihn mit dem Fuß an, und sprach 'was liegt da für ein Erdwurm, und beschaut sich inwendig?' Der zweite sprach 'tritt ihn todt.' Der dritte aber sprach verächtlich 'das wäre der Mühe werth! laßt ihn nur leben, hier kann er nicht bleiben, und wenn er höher bis auf die Bergspitze steigt, so packen ihn die Wolken, und tragen ihn fort.' Unter diesem Gespräch giengen sie vorüber, der Jäger aber hatte auf ihre Worte gemerkt, und sobald sie fort

und sie lasen das schönste und kostbarste zusammen. Nun hatte es aber die Alte durch ihre Hexenkunst bewirkt daß dem Jäger die Augen schwer wurden. Er sprach zu dem Mädchen ‘wir wollen ein wenig niedersitzen und ruhen, ich bin so müde, daß ich mich nicht mehr auf den Füßen erhalten kann.’ Da setzten sie sich, und er legte sein Haupt in ihren Schooß, und schlief ein. Wie er entschlafen war, da band es ihm den Mantel von den Schultern, und hieng ihn sich selbst um, las die Granaten und Steine auf, und wünschte sich damit nach Haus.

Als aber der Jäger seinen Schlaf ausgethan hatte, und aufwachte, sah er daß seine Liebste ihn betrogen und auf dem wilden Gebirg allein gelassen hatte. ‘O,’ sprach er, ‘wie ist die Untreue so groß auf der Welt!’ saß da in Sorg und Herzleid, und wußte nicht was er anfangen sollte. Der Berg aber gehörte wilden und ungeheuern Riesen, die darauf wohnten und ihr Wesen trieben, und wie er so saß, sah er ihrer drei daher schreiten. Da dachte er ‘wie kann ich mich anders retten, als daß ich mich schlafend stelle,’ und legte sich geschwind nieder, als wär er in tiefen Schlaf versunken. Nun kamen die Riesen herbei, und der erste stieß ihn mit dem Fuß an, und sprach ‘was liegt da für ein Erdwurm, und beschaut sich inwendig?’ Der zweite sprach ‘tritt ihn todt.’ Der dritte aber sprach verächtlich ‘das wäre der Mühe werth! laßt ihn nur leben, hier kann er nicht bleiben, und wenn er höher bis auf die Bergspitze steigt, so packen ihn die Wolken, und tragen ihn fort.’ Unter diesem Gespräch giengen sie vorüber, der Jäger aber hatte auf ihre Worte gemerkt, und sobald sie fort

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[195/0216] und sie lasen das schönste und kostbarste zusammen. Nun hatte es aber die Alte durch ihre Hexenkunst bewirkt daß dem Jäger die Augen schwer wurden. Er sprach zu dem Mädchen ‘wir wollen ein wenig niedersitzen und ruhen, ich bin so müde, daß ich mich nicht mehr auf den Füßen erhalten kann.’ Da setzten sie sich, und er legte sein Haupt in ihren Schooß, und schlief ein. Wie er entschlafen war, da band es ihm den Mantel von den Schultern, und hieng ihn sich selbst um, las die Granaten und Steine auf, und wünschte sich damit nach Haus. Als aber der Jäger seinen Schlaf ausgethan hatte, und aufwachte, sah er daß seine Liebste ihn betrogen und auf dem wilden Gebirg allein gelassen hatte. ‘O,’ sprach er, ‘wie ist die Untreue so groß auf der Welt!’ saß da in Sorg und Herzleid, und wußte nicht was er anfangen sollte. Der Berg aber gehörte wilden und ungeheuern Riesen, die darauf wohnten und ihr Wesen trieben, und wie er so saß, sah er ihrer drei daher schreiten. Da dachte er ‘wie kann ich mich anders retten, als daß ich mich schlafend stelle,’ und legte sich geschwind nieder, als wär er in tiefen Schlaf versunken. Nun kamen die Riesen herbei, und der erste stieß ihn mit dem Fuß an, und sprach ‘was liegt da für ein Erdwurm, und beschaut sich inwendig?’ Der zweite sprach ‘tritt ihn todt.’ Der dritte aber sprach verächtlich ‘das wäre der Mühe werth! laßt ihn nur leben, hier kann er nicht bleiben, und wenn er höher bis auf die Bergspitze steigt, so packen ihn die Wolken, und tragen ihn fort.’ Unter diesem Gespräch giengen sie vorüber, der Jäger aber hatte auf ihre Worte gemerkt, und sobald sie fort

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1840, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1840/216>, abgerufen am 09.05.2024.