Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1837.noch nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals hätte hören lassen. Sie forderte ihn auf sich umzukehren, und den gegenüberstehenden Glaskasten zu beschauen. Wie stieg seine Verwunderung als er darin ein Mädchen von größter Schönheit erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange blonde Haare wie in einen kostbaren Mantel eingehüllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe, und ein Band, das der Athem hin und her bewegte, ließen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der Schneider betrachtete die Schöne mit klopfendem Herzen, als sie plötzlich die Augen aufschlug, und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr. 'Gerechter Himmel,' rief sie, 'meine Befreiung naht! geschwind, geschwind, hilf mir aus meinem Gefängnis: wenn du den Riegel an diesem gläsernen Sarge wegschiebst, so bin ich erlöst.' Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, alsbald hob sie den Glasdeckel in die Höhe, stieg heraus, und eilte in die Ecke des Saals, wo sie sich in einen weiten Mantel verhüllte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hieß den jungen Mann heran gehen, und nachdem sie einen freundlichen Kuß auf seinen Mund gedrückt hatte, sprach sie 'mein lang ersehnter Befreier, der gütige Himmel hat mich zu dir geführt, und meinen Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage wo sie endigen, soll dein Glück beginnen. Du bist der vom Himmel mir bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen Gütern überhäuft, in ungestörter Freude dein Leben zubringen. Sitz nieder, und höre die Erzählung meines Schicksals. noch nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals haͤtte hoͤren lassen. Sie forderte ihn auf sich umzukehren, und den gegenuͤberstehenden Glaskasten zu beschauen. Wie stieg seine Verwunderung als er darin ein Maͤdchen von groͤßter Schoͤnheit erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange blonde Haare wie in einen kostbaren Mantel eingehuͤllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe, und ein Band, das der Athem hin und her bewegte, ließen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der Schneider betrachtete die Schoͤne mit klopfendem Herzen, als sie ploͤtzlich die Augen aufschlug, und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr. ‘Gerechter Himmel,’ rief sie, ‘meine Befreiung naht! geschwind, geschwind, hilf mir aus meinem Gefaͤngnis: wenn du den Riegel an diesem glaͤsernen Sarge wegschiebst, so bin ich erloͤst.’ Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, alsbald hob sie den Glasdeckel in die Hoͤhe, stieg heraus, und eilte in die Ecke des Saals, wo sie sich in einen weiten Mantel verhuͤllte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hieß den jungen Mann heran gehen, und nachdem sie einen freundlichen Kuß auf seinen Mund gedruͤckt hatte, sprach sie ‘mein lang ersehnter Befreier, der guͤtige Himmel hat mich zu dir gefuͤhrt, und meinen Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage wo sie endigen, soll dein Gluͤck beginnen. Du bist der vom Himmel mir bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen Guͤtern uͤberhaͤuft, in ungestoͤrter Freude dein Leben zubringen. Sitz nieder, und hoͤre die Erzaͤhlung meines Schicksals. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0351" n="335"/> noch nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals haͤtte hoͤren lassen. Sie forderte ihn auf sich umzukehren, und den gegenuͤberstehenden Glaskasten zu beschauen. Wie stieg seine Verwunderung als er darin ein Maͤdchen von groͤßter Schoͤnheit erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange blonde Haare wie in einen kostbaren Mantel eingehuͤllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe, und ein Band, das der Athem hin und her bewegte, ließen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der Schneider betrachtete die Schoͤne mit klopfendem Herzen, als sie ploͤtzlich die Augen aufschlug, und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr. ‘Gerechter Himmel,’ rief sie, ‘meine Befreiung naht! geschwind, geschwind, hilf mir aus meinem Gefaͤngnis: wenn du den Riegel an diesem glaͤsernen Sarge wegschiebst, so bin ich erloͤst.’ Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, alsbald hob sie den Glasdeckel in die Hoͤhe, stieg heraus, und eilte in die Ecke des Saals, wo sie sich in einen weiten Mantel verhuͤllte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hieß den jungen Mann heran gehen, und nachdem sie einen freundlichen Kuß auf seinen Mund gedruͤckt hatte, sprach sie ‘mein lang ersehnter Befreier, der guͤtige Himmel hat mich zu dir gefuͤhrt, und meinen Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage wo sie endigen, soll dein Gluͤck beginnen. Du bist der vom Himmel mir bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen Guͤtern uͤberhaͤuft, in ungestoͤrter Freude dein Leben zubringen. Sitz nieder, und hoͤre die Erzaͤhlung meines Schicksals.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [335/0351]
noch nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals haͤtte hoͤren lassen. Sie forderte ihn auf sich umzukehren, und den gegenuͤberstehenden Glaskasten zu beschauen. Wie stieg seine Verwunderung als er darin ein Maͤdchen von groͤßter Schoͤnheit erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange blonde Haare wie in einen kostbaren Mantel eingehuͤllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe, und ein Band, das der Athem hin und her bewegte, ließen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der Schneider betrachtete die Schoͤne mit klopfendem Herzen, als sie ploͤtzlich die Augen aufschlug, und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr. ‘Gerechter Himmel,’ rief sie, ‘meine Befreiung naht! geschwind, geschwind, hilf mir aus meinem Gefaͤngnis: wenn du den Riegel an diesem glaͤsernen Sarge wegschiebst, so bin ich erloͤst.’ Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, alsbald hob sie den Glasdeckel in die Hoͤhe, stieg heraus, und eilte in die Ecke des Saals, wo sie sich in einen weiten Mantel verhuͤllte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hieß den jungen Mann heran gehen, und nachdem sie einen freundlichen Kuß auf seinen Mund gedruͤckt hatte, sprach sie ‘mein lang ersehnter Befreier, der guͤtige Himmel hat mich zu dir gefuͤhrt, und meinen Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage wo sie endigen, soll dein Gluͤck beginnen. Du bist der vom Himmel mir bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen Guͤtern uͤberhaͤuft, in ungestoͤrter Freude dein Leben zubringen. Sitz nieder, und hoͤre die Erzaͤhlung meines Schicksals.
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Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1837, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1837/351>, abgerufen am 17.06.2024. |