Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.wieder an seines Vaters Schloß, aber niemand erkannte ihn. Er sprach zu den Dienern: "geht und sagt meinen Eltern, daß ich wiedergekommen bin;" aber die Diener glaubten es nicht, lachten und ließen ihn stehen. Da sprach er: "geht und sagts meinen Brüdern, daß sie herab kommen, ich möchte sie so gerne wieder sehen." Sie wollten auch nicht, bis endlich einer darunter hinging und es den Königskindern sagte, aber diese glaubten es nicht und bekümmerten sich nicht darum. Da schrieb er einen Brief an seine Mutter und beschrieb ihr darin all sein Eleud, aber er sagte nicht, daß er ihr Sohn wäre. Da ließ ihm die Königin aus Mitleid einen Platz unter der Treppe anweisen und ihm täglich durch zwei Diener Essen bringen. Aber der eine war bös und sprach: "was soll dem Bettler das gute Essen!" behielts für sich oder gabs den Hunden und brachte dem Schwachen, Abgezehrten nur Wasser; doch der andere war ehrlich und brachte ihm was er für ihn bekam. Es war wenig, doch konnte er davon eine Zeit lang leben; dabei war er ganz geduldig, bis er immer schwächer ward. Als aber seine Krankheit zunahm, da begehrte er das heil. Abendmahl zu empfangen. Wie es nun unter der halben Messe ist, fangen von selbst alle Glocken in der Stadt und in der Gegend an zu läuten. Der Geistliche geht nach der Messe zu dem armen Mann unter der Treppe, so liegt er da todt, in der einen Hand eine Rose, in der andern eine Lilie und neben ihm ein Papier, darauf steht seine Geschichte aufgeschrieben. Als er begraben war, wuchs auf der einen Seite des Grabs eine Rose, auf der andern eine Lilie heraus. wieder an seines Vaters Schloß, aber niemand erkannte ihn. Er sprach zu den Dienern: „geht und sagt meinen Eltern, daß ich wiedergekommen bin;“ aber die Diener glaubten es nicht, lachten und ließen ihn stehen. Da sprach er: „geht und sagts meinen Bruͤdern, daß sie herab kommen, ich moͤchte sie so gerne wieder sehen.“ Sie wollten auch nicht, bis endlich einer darunter hinging und es den Koͤnigskindern sagte, aber diese glaubten es nicht und bekuͤmmerten sich nicht darum. Da schrieb er einen Brief an seine Mutter und beschrieb ihr darin all sein Eleud, aber er sagte nicht, daß er ihr Sohn waͤre. Da ließ ihm die Koͤnigin aus Mitleid einen Platz unter der Treppe anweisen und ihm taͤglich durch zwei Diener Essen bringen. Aber der eine war boͤs und sprach: „was soll dem Bettler das gute Essen!“ behielts fuͤr sich oder gabs den Hunden und brachte dem Schwachen, Abgezehrten nur Wasser; doch der andere war ehrlich und brachte ihm was er fuͤr ihn bekam. Es war wenig, doch konnte er davon eine Zeit lang leben; dabei war er ganz geduldig, bis er immer schwaͤcher ward. Als aber seine Krankheit zunahm, da begehrte er das heil. Abendmahl zu empfangen. Wie es nun unter der halben Messe ist, fangen von selbst alle Glocken in der Stadt und in der Gegend an zu laͤuten. Der Geistliche geht nach der Messe zu dem armen Mann unter der Treppe, so liegt er da todt, in der einen Hand eine Rose, in der andern eine Lilie und neben ihm ein Papier, darauf steht seine Geschichte aufgeschrieben. Als er begraben war, wuchs auf der einen Seite des Grabs eine Rose, auf der andern eine Lilie heraus. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0374" n="296"/> wieder an seines Vaters Schloß, aber niemand erkannte ihn. Er sprach zu den Dienern: „geht und sagt meinen Eltern, daß ich wiedergekommen bin;“ aber die Diener glaubten es nicht, lachten und ließen ihn stehen. Da sprach er: „geht und sagts meinen Bruͤdern, daß sie herab kommen, ich moͤchte sie so gerne wieder sehen.“ Sie wollten auch nicht, bis endlich einer darunter hinging und es den Koͤnigskindern sagte, aber diese glaubten es nicht und bekuͤmmerten sich nicht darum. Da schrieb er einen Brief an seine Mutter und beschrieb ihr darin all sein Eleud, aber er sagte nicht, daß er ihr Sohn waͤre. Da ließ ihm die Koͤnigin aus Mitleid einen Platz unter der Treppe anweisen und ihm taͤglich durch zwei Diener Essen bringen. Aber der eine war boͤs und sprach: „was soll dem Bettler das gute Essen!“ behielts fuͤr sich oder gabs den Hunden und brachte dem Schwachen, Abgezehrten nur Wasser; doch der andere war ehrlich und brachte ihm was er fuͤr ihn bekam. Es war wenig, doch konnte er davon eine Zeit lang leben; dabei war er ganz geduldig, bis er immer schwaͤcher ward. Als aber seine Krankheit zunahm, da begehrte er das heil. Abendmahl zu empfangen. Wie es nun unter der halben Messe ist, fangen von selbst alle Glocken in der Stadt und in der Gegend an zu laͤuten. Der Geistliche geht nach der Messe zu dem armen Mann unter der Treppe, so liegt er da todt, in der einen Hand eine Rose, in der andern eine Lilie und neben ihm ein Papier, darauf steht seine Geschichte aufgeschrieben.</p><lb/> <p>Als er begraben war, wuchs auf der einen Seite des Grabs eine Rose, auf der andern eine Lilie heraus.</p> </div><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [296/0374]
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Als er begraben war, wuchs auf der einen Seite des Grabs eine Rose, auf der andern eine Lilie heraus.
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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12546-6) in Bd. 2, S. 305–308 ein Wörterverzeichnis mit Begriffserläuterungen.
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