Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.-- "Jch zahl' dir's, sobald das Eichenlaub abfällt, dann komm, dein Geld ist schon gezählt." Als das Eichenlaub abgefallen war, kam der Teufel und forderte seine Schuld. Der Herr aber sprach: "in der Kirche zu Constantinopel steht eine hohe Eiche, die hat noch alles ihr Laub!" Mit Toben und Fluchen entwich der Teufel und wollte die Eiche suchen, irrte sechs Monate in der Wüstenei, eh er sie befand, und als er wieder kam, waren derweil wieder alle andere Eichen voll grüner Blätter. Da mußte er seine Schuld fahren lassen, stach im Zorn allen übrigen Geisen die Augen aus und setzte ihnen seine eigene ein. Darum haben alle Geise Teufelsaugen und abgebißne Schwänz und er nimmt gern ihre Gestalt an. 149.
Der Hahnenbalken. Es war einmal ein Zauberer, der stand mitten in einer großen Menge Volks und vollbrachte seine Wunderdinge, da ließ er auch einen Hahn einher schreiten, der hob einen schweren Balken und trug ihn, als wär er federleicht. Nun war aber ein Mädchen, das hatte eben ein vierblättriges Kleeblatt gefunden, und war dadurch klug geworden, so daß kein Blendwerk vor ihm bestehen konnte, und es sah, daß der Balken nichts war, als ein Strohhalm. Da rief es: "ei! ihr Leute seht ihr nicht, das ist ein bloßer Strohhalm und kein Balken, was der Hahn da trägt." Alsbald verschwand der Zauber, und die Leute sahen was es war, — „Jch zahl’ dir’s, sobald das Eichenlaub abfaͤllt, dann komm, dein Geld ist schon gezaͤhlt.“ Als das Eichenlaub abgefallen war, kam der Teufel und forderte seine Schuld. Der Herr aber sprach: „in der Kirche zu Constantinopel steht eine hohe Eiche, die hat noch alles ihr Laub!“ Mit Toben und Fluchen entwich der Teufel und wollte die Eiche suchen, irrte sechs Monate in der Wuͤstenei, eh er sie befand, und als er wieder kam, waren derweil wieder alle andere Eichen voll gruͤner Blaͤtter. Da mußte er seine Schuld fahren lassen, stach im Zorn allen uͤbrigen Geisen die Augen aus und setzte ihnen seine eigene ein. Darum haben alle Geise Teufelsaugen und abgebißne Schwaͤnz und er nimmt gern ihre Gestalt an. 149.
Der Hahnenbalken. Es war einmal ein Zauberer, der stand mitten in einer großen Menge Volks und vollbrachte seine Wunderdinge, da ließ er auch einen Hahn einher schreiten, der hob einen schweren Balken und trug ihn, als waͤr er federleicht. Nun war aber ein Maͤdchen, das hatte eben ein vierblaͤttriges Kleeblatt gefunden, und war dadurch klug geworden, so daß kein Blendwerk vor ihm bestehen konnte, und es sah, daß der Balken nichts war, als ein Strohhalm. Da rief es: „ei! ihr Leute seht ihr nicht, das ist ein bloßer Strohhalm und kein Balken, was der Hahn da traͤgt.“ Alsbald verschwand der Zauber, und die Leute sahen was es war, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0350" n="272"/> — „Jch zahl’ dir’s, sobald das Eichenlaub abfaͤllt, dann komm, dein Geld ist schon gezaͤhlt.“ Als das Eichenlaub abgefallen war, kam der Teufel und forderte seine Schuld. Der Herr aber sprach: „in der Kirche zu Constantinopel steht eine hohe Eiche, die hat noch alles ihr Laub!“ Mit Toben und Fluchen entwich der Teufel und wollte die Eiche suchen, irrte sechs Monate in der Wuͤstenei, eh er sie befand, und als er wieder kam, waren derweil wieder alle andere Eichen voll gruͤner Blaͤtter. Da mußte er seine Schuld fahren lassen, stach im Zorn allen uͤbrigen Geisen die Augen aus und setzte ihnen seine eigene ein.</p><lb/> <p>Darum haben alle Geise Teufelsaugen und abgebißne Schwaͤnz und er nimmt gern ihre Gestalt an.</p> </div><lb/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">149.<lb/> Der Hahnenbalken.</hi> </head><lb/> <p>Es war einmal ein Zauberer, der stand mitten in einer großen Menge Volks und vollbrachte seine Wunderdinge, da ließ er auch einen Hahn einher schreiten, der hob einen schweren Balken und trug ihn, als waͤr er federleicht. Nun war aber ein Maͤdchen, das hatte eben ein vierblaͤttriges Kleeblatt gefunden, und war dadurch klug geworden, so daß kein Blendwerk vor ihm bestehen konnte, und es sah, daß der Balken nichts war, als ein Strohhalm. Da rief es: „ei! ihr Leute seht ihr nicht, das ist ein bloßer Strohhalm und kein Balken, was der Hahn da traͤgt.“ Alsbald verschwand der Zauber, und die Leute sahen was es war, </p> </div> </body> </text> </TEI> [272/0350]
— „Jch zahl’ dir’s, sobald das Eichenlaub abfaͤllt, dann komm, dein Geld ist schon gezaͤhlt.“ Als das Eichenlaub abgefallen war, kam der Teufel und forderte seine Schuld. Der Herr aber sprach: „in der Kirche zu Constantinopel steht eine hohe Eiche, die hat noch alles ihr Laub!“ Mit Toben und Fluchen entwich der Teufel und wollte die Eiche suchen, irrte sechs Monate in der Wuͤstenei, eh er sie befand, und als er wieder kam, waren derweil wieder alle andere Eichen voll gruͤner Blaͤtter. Da mußte er seine Schuld fahren lassen, stach im Zorn allen uͤbrigen Geisen die Augen aus und setzte ihnen seine eigene ein.
Darum haben alle Geise Teufelsaugen und abgebißne Schwaͤnz und er nimmt gern ihre Gestalt an.
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Der Hahnenbalken.
Es war einmal ein Zauberer, der stand mitten in einer großen Menge Volks und vollbrachte seine Wunderdinge, da ließ er auch einen Hahn einher schreiten, der hob einen schweren Balken und trug ihn, als waͤr er federleicht. Nun war aber ein Maͤdchen, das hatte eben ein vierblaͤttriges Kleeblatt gefunden, und war dadurch klug geworden, so daß kein Blendwerk vor ihm bestehen konnte, und es sah, daß der Balken nichts war, als ein Strohhalm. Da rief es: „ei! ihr Leute seht ihr nicht, das ist ein bloßer Strohhalm und kein Balken, was der Hahn da traͤgt.“ Alsbald verschwand der Zauber, und die Leute sahen was es war,
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Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1819/350>, abgerufen am 16.02.2025. |