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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.

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sich auf einen Rain und fing an zu weinen und so zu weinen, daß zwei Bächlein aus seinen Augen herabflossen. Und wie es einmal aufsah, stand eine Frau neben ihm, die fragte "Zweiäuglein, was weinst du?" Zweiäuglein antwortete: "soll ich nicht weinen! weil ich zwei Augen habe, wie andere Menschen, so können mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich herum, werfen mir alte, schlechte Kleider hin und geben mir nur zu essen, was sie übrig lassen. Heute haben sie mir fast gar nichts gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin." Sprach die weise Frau: "Zweiäuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege:

"Zicklein, meck!
Tischlein deck!"

so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen und das schönste Essen darauf, daß du essen kannst, so viel du Lust hast. Und wenn du satt bist und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur:

"Zicklein, meck!
Tischlein weg!"

so wirds vor deinen Augen wieder verschwinden." Darauf ging die weise Frau fort; Zweiäuglein aber dachte; "ich muß gleich einmal versuchen, ob es wahr ist, was sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr" und sprach:

"Zicklein, meck!
Tischlein deck!"

sich auf einen Rain und fing an zu weinen und so zu weinen, daß zwei Baͤchlein aus seinen Augen herabflossen. Und wie es einmal aufsah, stand eine Frau neben ihm, die fragte „Zweiaͤuglein, was weinst du?“ Zweiaͤuglein antwortete: „soll ich nicht weinen! weil ich zwei Augen habe, wie andere Menschen, so koͤnnen mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich herum, werfen mir alte, schlechte Kleider hin und geben mir nur zu essen, was sie uͤbrig lassen. Heute haben sie mir fast gar nichts gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin.“ Sprach die weise Frau: „Zweiaͤuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege:

„Zicklein, meck!
Tischlein deck!“

so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen und das schoͤnste Essen darauf, daß du essen kannst, so viel du Lust hast. Und wenn du satt bist und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur:

„Zicklein, meck!
Tischlein weg!“

so wirds vor deinen Augen wieder verschwinden.“ Darauf ging die weise Frau fort; Zweiaͤuglein aber dachte; „ich muß gleich einmal versuchen, ob es wahr ist, was sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr“ und sprach:

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[213/0291] sich auf einen Rain und fing an zu weinen und so zu weinen, daß zwei Baͤchlein aus seinen Augen herabflossen. Und wie es einmal aufsah, stand eine Frau neben ihm, die fragte „Zweiaͤuglein, was weinst du?“ Zweiaͤuglein antwortete: „soll ich nicht weinen! weil ich zwei Augen habe, wie andere Menschen, so koͤnnen mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich herum, werfen mir alte, schlechte Kleider hin und geben mir nur zu essen, was sie uͤbrig lassen. Heute haben sie mir fast gar nichts gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin.“ Sprach die weise Frau: „Zweiaͤuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege: „Zicklein, meck! Tischlein deck!“ so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen und das schoͤnste Essen darauf, daß du essen kannst, so viel du Lust hast. Und wenn du satt bist und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur: „Zicklein, meck! Tischlein weg!“ so wirds vor deinen Augen wieder verschwinden.“ Darauf ging die weise Frau fort; Zweiaͤuglein aber dachte; „ich muß gleich einmal versuchen, ob es wahr ist, was sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr“ und sprach: „Zicklein, meck! Tischlein deck!“

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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12546-6) in Bd. 2, S. 305–308 ein Wörterverzeichnis mit Begriffserläuterungen.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1819/291>, abgerufen am 17.05.2024.