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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.

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einen Becher und gab ihn dem Mädchen, das mußte ihn dem Jäger reichen. Sprach es: "nun, mein Liebster, trink mir zu!" Da nahm er den Becher, und wie er den Trank geschluckt hatte, brach er das Herz des Vogels aus dem Leibe. Das Mädchen mußte es heimlich fortschaffen und dann selbst verschlucken, denn die Alte wollte es haben. Von nun an fand er kein Gold mehr unter seinem Kopfkissen, sondern es lag unter dem Kissen des Mädchens, wo es die Alte jeden Morgen holte; aber er war so verliebt und vernarrt, daß er an nichts anders dachte, als sich mit dem Mädchen die Zeit zu vertreiben.

Da sprach die alte Hexe: "das Vogelherz haben wir, aber den Wunschmantel haben wir noch nicht, den müssen wir ihm auch abnehmen." Antwortete das Mädchen: "den wollen wir ihm lassen, er hat ja doch seinen Reichthum verloren." Da ward die Alte bös und sprach: "so ein Mantel ist ein wunderbares Ding, das selten auf der Welt gefunden wird, den soll und muß ich haben;" und gab dem Mädchen Anschläge und sagte, wenn es ihr nicht gehorche, sollte es ihm schlimm ergehen. Da that es nach dem Geheiß der Alten und stellte sich einmal ans Fenster und schaute in die weite Gegend, als wär es ganz traurig. Fragte der Jäger: "was stehst du so traurig da?" "Ach, mein Schatz, gab es zur Antwort, da gegenüber liegt der Granatenberg, wo die köstlichen Edelsteine wachsen. Darnach trag ich so großes Verlangen, daß wenn ich daran denke, ich traurig seyn muß; aber wer kann sie holen! nur die Vögel, die fliegen, kommen hin, ein Mensch nimmermehr." "Jst das all euer Kummer, sagte der

einen Becher und gab ihn dem Maͤdchen, das mußte ihn dem Jaͤger reichen. Sprach es: „nun, mein Liebster, trink mir zu!“ Da nahm er den Becher, und wie er den Trank geschluckt hatte, brach er das Herz des Vogels aus dem Leibe. Das Maͤdchen mußte es heimlich fortschaffen und dann selbst verschlucken, denn die Alte wollte es haben. Von nun an fand er kein Gold mehr unter seinem Kopfkissen, sondern es lag unter dem Kissen des Maͤdchens, wo es die Alte jeden Morgen holte; aber er war so verliebt und vernarrt, daß er an nichts anders dachte, als sich mit dem Maͤdchen die Zeit zu vertreiben.

Da sprach die alte Hexe: „das Vogelherz haben wir, aber den Wunschmantel haben wir noch nicht, den muͤssen wir ihm auch abnehmen.“ Antwortete das Maͤdchen: „den wollen wir ihm lassen, er hat ja doch seinen Reichthum verloren.“ Da ward die Alte boͤs und sprach: „so ein Mantel ist ein wunderbares Ding, das selten auf der Welt gefunden wird, den soll und muß ich haben;“ und gab dem Maͤdchen Anschlaͤge und sagte, wenn es ihr nicht gehorche, sollte es ihm schlimm ergehen. Da that es nach dem Geheiß der Alten und stellte sich einmal ans Fenster und schaute in die weite Gegend, als waͤr es ganz traurig. Fragte der Jaͤger: „was stehst du so traurig da?“ „Ach, mein Schatz, gab es zur Antwort, da gegenuͤber liegt der Granatenberg, wo die koͤstlichen Edelsteine wachsen. Darnach trag ich so großes Verlangen, daß wenn ich daran denke, ich traurig seyn muß; aber wer kann sie holen! nur die Voͤgel, die fliegen, kommen hin, ein Mensch nimmermehr.“ „Jst das all euer Kummer, sagte der

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[175/0253] einen Becher und gab ihn dem Maͤdchen, das mußte ihn dem Jaͤger reichen. Sprach es: „nun, mein Liebster, trink mir zu!“ Da nahm er den Becher, und wie er den Trank geschluckt hatte, brach er das Herz des Vogels aus dem Leibe. Das Maͤdchen mußte es heimlich fortschaffen und dann selbst verschlucken, denn die Alte wollte es haben. Von nun an fand er kein Gold mehr unter seinem Kopfkissen, sondern es lag unter dem Kissen des Maͤdchens, wo es die Alte jeden Morgen holte; aber er war so verliebt und vernarrt, daß er an nichts anders dachte, als sich mit dem Maͤdchen die Zeit zu vertreiben. Da sprach die alte Hexe: „das Vogelherz haben wir, aber den Wunschmantel haben wir noch nicht, den muͤssen wir ihm auch abnehmen.“ Antwortete das Maͤdchen: „den wollen wir ihm lassen, er hat ja doch seinen Reichthum verloren.“ Da ward die Alte boͤs und sprach: „so ein Mantel ist ein wunderbares Ding, das selten auf der Welt gefunden wird, den soll und muß ich haben;“ und gab dem Maͤdchen Anschlaͤge und sagte, wenn es ihr nicht gehorche, sollte es ihm schlimm ergehen. Da that es nach dem Geheiß der Alten und stellte sich einmal ans Fenster und schaute in die weite Gegend, als waͤr es ganz traurig. Fragte der Jaͤger: „was stehst du so traurig da?“ „Ach, mein Schatz, gab es zur Antwort, da gegenuͤber liegt der Granatenberg, wo die koͤstlichen Edelsteine wachsen. Darnach trag ich so großes Verlangen, daß wenn ich daran denke, ich traurig seyn muß; aber wer kann sie holen! nur die Voͤgel, die fliegen, kommen hin, ein Mensch nimmermehr.“ „Jst das all euer Kummer, sagte der

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Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12546-6) in Bd. 2, S. 305–308 ein Wörterverzeichnis mit Begriffserläuterungen.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1819/253>, abgerufen am 17.05.2024.