Ein Kind saß vor der Hausthüre auf der Erde und hatte sein Schüsselchen mit Milch und Weckbrocken neben sich und aß. Da kam eine Unke gekrochen und senkte ihr Köpfchen in die Schüssel und aß mit. Am andern Tag kam sie wieder und so eine Zeitlang jeden Tag. Das Kind ließ sich das gefallen, wie es aber sah, daß die Unke immerfort blos die Milch trank und die Brocken liegen ließ, nahm es sein Löffelchen, schlug ihr ein Bischen auf den Kopf und sagte: "Ding, iß auch Brocken!" Das Kind war seit der Zeit schön und groß geworden, seine Mutter aber stand gerade hinter ihm, und sah die Unke, da lief sie herbei und schlug sie todt, von dem Augenblick ward das Kind mager und ist endlich gestorben.
II.
Ein Waisen-Mädchen saß an der Stadt- mauer und spann, sah eine Unke herkommen. Da breitete es ein blauseiden Tuch, das die Unken gewaltig lieben und auf das sie allein gehen, ne- ben sich aus. Alsobald die Unke das erblickte, kehrte sie um, kam wieder und brachte ein kleines
19. Maͤhrchen von der Unke.
I.
Ein Kind ſaß vor der Hausthuͤre auf der Erde und hatte ſein Schuͤſſelchen mit Milch und Weckbrocken neben ſich und aß. Da kam eine Unke gekrochen und ſenkte ihr Koͤpfchen in die Schuͤſſel und aß mit. Am andern Tag kam ſie wieder und ſo eine Zeitlang jeden Tag. Das Kind ließ ſich das gefallen, wie es aber ſah, daß die Unke immerfort blos die Milch trank und die Brocken liegen ließ, nahm es ſein Loͤffelchen, ſchlug ihr ein Bischen auf den Kopf und ſagte: „Ding, iß auch Brocken!“ Das Kind war ſeit der Zeit ſchoͤn und groß geworden, ſeine Mutter aber ſtand gerade hinter ihm, und ſah die Unke, da lief ſie herbei und ſchlug ſie todt, von dem Augenblick ward das Kind mager und iſt endlich geſtorben.
II.
Ein Waiſen-Maͤdchen ſaß an der Stadt- mauer und ſpann, ſah eine Unke herkommen. Da breitete es ein blauſeiden Tuch, das die Unken gewaltig lieben und auf das ſie allein gehen, ne- ben ſich aus. Alſobald die Unke das erblickte, kehrte ſie um, kam wieder und brachte ein kleines
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19.
Maͤhrchen von der Unke.
I.
Ein Kind ſaß vor der Hausthuͤre auf der
Erde und hatte ſein Schuͤſſelchen mit Milch und
Weckbrocken neben ſich und aß. Da kam eine
Unke gekrochen und ſenkte ihr Koͤpfchen in die
Schuͤſſel und aß mit. Am andern Tag kam ſie
wieder und ſo eine Zeitlang jeden Tag. Das Kind
ließ ſich das gefallen, wie es aber ſah, daß die
Unke immerfort blos die Milch trank und die
Brocken liegen ließ, nahm es ſein Loͤffelchen, ſchlug
ihr ein Bischen auf den Kopf und ſagte: „Ding,
iß auch Brocken!“ Das Kind war ſeit der Zeit
ſchoͤn und groß geworden, ſeine Mutter aber ſtand
gerade hinter ihm, und ſah die Unke, da lief ſie
herbei und ſchlug ſie todt, von dem Augenblick
ward das Kind mager und iſt endlich geſtorben.
II.
Ein Waiſen-Maͤdchen ſaß an der Stadt-
mauer und ſpann, ſah eine Unke herkommen. Da
breitete es ein blauſeiden Tuch, das die Unken
gewaltig lieben und auf das ſie allein gehen, ne-
ben ſich aus. Alſobald die Unke das erblickte,
kehrte ſie um, kam wieder und brachte ein kleines
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/135>, abgerufen am 18.12.2024.
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