Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

ward. Da nahm er das Ungestüm auf die Schulter, gieng heimwärts und wollte es dem Könige bringen.

Als er auf der andern Seite des Waldes heraus kam, stand da am Eingang ein Haus, wo die Leute sich mit Tanz und Wein lustig machten. Sein ältester Bruder war da eingetreten und hatte gedacht das Schwein liefe ihm doch nicht fort, erst wollte er sich einen rechten Muth trinken. Als er nun den jüngsten erblickte, der mit seiner Beute beladen aus dem Wald kam, so ließ ihm sein neidisches und boshaftes Herz keine Ruhe. Er rief ihm zu 'komm doch herein, lieber Bruder, ruhe dich aus und stärke dich mit einem Becher Wein.' Der jüngste, der nichts arges dahinter vermuthete, gieng hinein und erzählte ihm von dem guten Männlein, das ihm einen Spieß gegeben, womit er das Schwein getödtet hätte. Der älteste hielt ihn bis zum Abend zurück, da giengen sie zusammen fort. Als sie aber in der Dunkelheit zu der Brücke über einen Bach kamen, ließ der älteste den jüngsten vorangehen, und als er mitten über dem Wasser war, gab er ihm von hinten einen Schlag, daß er todt hinabstürzte. Er begrub ihn unter der Brücke, nahm dann das Schwein und brachte es dem König mit dem Vorgeben er hätte es getödtet; worauf er die Tochter des Königs zur Gemahlin erhielt. Als der jüngste Bruder nicht wieder kommen wollte, sagte er 'das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben,' und das glaubte jedermann.

Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Herde über die Brücke und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen und dachte das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er herab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knöchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen

ward. Da nahm er das Ungestüm auf die Schulter, gieng heimwärts und wollte es dem Könige bringen.

Als er auf der andern Seite des Waldes heraus kam, stand da am Eingang ein Haus, wo die Leute sich mit Tanz und Wein lustig machten. Sein ältester Bruder war da eingetreten und hatte gedacht das Schwein liefe ihm doch nicht fort, erst wollte er sich einen rechten Muth trinken. Als er nun den jüngsten erblickte, der mit seiner Beute beladen aus dem Wald kam, so ließ ihm sein neidisches und boshaftes Herz keine Ruhe. Er rief ihm zu ‘komm doch herein, lieber Bruder, ruhe dich aus und stärke dich mit einem Becher Wein.’ Der jüngste, der nichts arges dahinter vermuthete, gieng hinein und erzählte ihm von dem guten Männlein, das ihm einen Spieß gegeben, womit er das Schwein getödtet hätte. Der älteste hielt ihn bis zum Abend zurück, da giengen sie zusammen fort. Als sie aber in der Dunkelheit zu der Brücke über einen Bach kamen, ließ der älteste den jüngsten vorangehen, und als er mitten über dem Wasser war, gab er ihm von hinten einen Schlag, daß er todt hinabstürzte. Er begrub ihn unter der Brücke, nahm dann das Schwein und brachte es dem König mit dem Vorgeben er hätte es getödtet; worauf er die Tochter des Königs zur Gemahlin erhielt. Als der jüngste Bruder nicht wieder kommen wollte, sagte er ‘das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben,’ und das glaubte jedermann.

Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Herde über die Brücke und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen und dachte das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er herab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knöchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0183" n="150"/>
ward. Da nahm er das Ungestüm auf die Schulter, gieng heimwärts und wollte es dem Könige bringen.</p><lb/>
        <p>Als er auf der andern Seite des Waldes heraus kam, stand da am Eingang ein Haus, wo die Leute sich mit Tanz und Wein lustig machten. Sein ältester Bruder war da eingetreten und hatte gedacht das Schwein liefe ihm doch nicht fort, erst wollte er sich einen rechten Muth trinken. Als er nun den jüngsten erblickte, der mit seiner Beute beladen aus dem Wald kam, so ließ ihm sein neidisches und boshaftes Herz keine Ruhe. Er rief ihm zu &#x2018;komm doch herein, lieber Bruder, ruhe dich aus und stärke dich mit einem Becher Wein.&#x2019; Der jüngste, der nichts arges dahinter vermuthete, gieng hinein und erzählte ihm von dem guten Männlein, das ihm einen Spieß gegeben, womit er das Schwein getödtet hätte. Der älteste hielt ihn bis zum Abend zurück, da giengen sie zusammen fort. Als sie aber in der Dunkelheit zu der Brücke über einen Bach kamen, ließ der älteste den jüngsten vorangehen, und als er mitten über dem Wasser war, gab er ihm von hinten einen Schlag, daß er todt hinabstürzte. Er begrub ihn unter der Brücke, nahm dann das Schwein und brachte es dem König mit dem Vorgeben er hätte es getödtet; worauf er die Tochter des Königs zur Gemahlin erhielt. Als der jüngste Bruder nicht wieder kommen wollte, sagte er &#x2018;das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben,&#x2019; und das glaubte jedermann.</p><lb/>
        <p>Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Herde über die Brücke und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen und dachte das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er herab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knöchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0183] ward. Da nahm er das Ungestüm auf die Schulter, gieng heimwärts und wollte es dem Könige bringen. Als er auf der andern Seite des Waldes heraus kam, stand da am Eingang ein Haus, wo die Leute sich mit Tanz und Wein lustig machten. Sein ältester Bruder war da eingetreten und hatte gedacht das Schwein liefe ihm doch nicht fort, erst wollte er sich einen rechten Muth trinken. Als er nun den jüngsten erblickte, der mit seiner Beute beladen aus dem Wald kam, so ließ ihm sein neidisches und boshaftes Herz keine Ruhe. Er rief ihm zu ‘komm doch herein, lieber Bruder, ruhe dich aus und stärke dich mit einem Becher Wein.’ Der jüngste, der nichts arges dahinter vermuthete, gieng hinein und erzählte ihm von dem guten Männlein, das ihm einen Spieß gegeben, womit er das Schwein getödtet hätte. Der älteste hielt ihn bis zum Abend zurück, da giengen sie zusammen fort. Als sie aber in der Dunkelheit zu der Brücke über einen Bach kamen, ließ der älteste den jüngsten vorangehen, und als er mitten über dem Wasser war, gab er ihm von hinten einen Schlag, daß er todt hinabstürzte. Er begrub ihn unter der Brücke, nahm dann das Schwein und brachte es dem König mit dem Vorgeben er hätte es getödtet; worauf er die Tochter des Königs zur Gemahlin erhielt. Als der jüngste Bruder nicht wieder kommen wollte, sagte er ‘das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben,’ und das glaubte jedermann. Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Herde über die Brücke und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen und dachte das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er herab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knöchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Google Books (University of Oxford, Taylor Institution Library): Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-03T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1857/183
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1857, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1857/183>, abgerufen am 25.11.2024.