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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.

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aller Dinge, wie nach innerm Adel der Gesinnung: das Mythische und Wunderbare, wo es noch verbleibt, muß den Schein des Geschichtlichen annehmen und als Wahrheit gelten. Nur wenig davon erträgt das Nibelungelied, nur im Hintergrund zeigen sich die Schwanenjungfrauen, selbst die Hornhaut und Unverwundbarkeit Siegfrieds war der ältern Auffassung der Edda fremd: auch der Erwerb des unsichtbar machenden Mantels statt der Annahme einer andern Gestalt, wozu Götter die Kraft besitzen, mag erst aus Märchen eingeführt sein. Jn der Dieterichssage und in der älteren Gudrun ist es bis auf leise Spuren verschwunden, gänzlich in Walther und Hildegunde. Neben der Heldensage hat das Märchen gewis ununterbrochen fort bestanden, schon in der heutigen oder einer ihr nahe kommenden Gestalt, nur weniger lückenhaft und gestört. Zeugnis davon liefern das lateinische Märchen bei Ratherius (Haupts Zeitschr. 8, 21), der Modus liebinc das Schneelied, und Modus florum (Eberts Überlieferungen 1, 79) alle drei aus dem zehnten Jahrhundert, ferner der König Laurin, Sanct Oswald, die Entführung Hagens durch den Greif in dem ersten Theil der Gudrun, der Rosengarten, der arme Heinrich, der Pfaffe Amis, Schretel und Wasserbär (Haupts Zeitschr. 6, 174), die zwölf Tursen (Altd. Wäld. 3, 178. Konrad von Würzburg MS. 2, 205), der rosenlachende Mann in Heinrichs von Neustadt Apollonius (Alt. Wäld. 1, 72).

Man wird fragen wo die äußern Grenzen des Gemeinsamen bei den Märchen beginnen und wie die Grade der Verwandtschaft sich abstufen. Die Grenze wird bezeichnet durch den großen Volksstamm, den man den indogermanischen zu benennen pflegt, und die Verwandtschaft zieht sich in immer engern Ringen um die Wohnsitze der Deutschen, etwa in demselben Verhältnis, in welchem wir in den Sprachen der einzelnen dazu gehörigen Völker Gemeinsames

aller Dinge, wie nach innerm Adel der Gesinnung: das Mythische und Wunderbare, wo es noch verbleibt, muß den Schein des Geschichtlichen annehmen und als Wahrheit gelten. Nur wenig davon erträgt das Nibelungelied, nur im Hintergrund zeigen sich die Schwanenjungfrauen, selbst die Hornhaut und Unverwundbarkeit Siegfrieds war der ältern Auffassung der Edda fremd: auch der Erwerb des unsichtbar machenden Mantels statt der Annahme einer andern Gestalt, wozu Götter die Kraft besitzen, mag erst aus Märchen eingeführt sein. Jn der Dieterichssage und in der älteren Gudrun ist es bis auf leise Spuren verschwunden, gänzlich in Walther und Hildegunde. Neben der Heldensage hat das Märchen gewis ununterbrochen fort bestanden, schon in der heutigen oder einer ihr nahe kommenden Gestalt, nur weniger lückenhaft und gestört. Zeugnis davon liefern das lateinische Märchen bei Ratherius (Haupts Zeitschr. 8, 21), der Modus liebinc das Schneelied, und Modus florum (Eberts Überlieferungen 1, 79) alle drei aus dem zehnten Jahrhundert, ferner der König Laurin, Sanct Oswald, die Entführung Hagens durch den Greif in dem ersten Theil der Gudrun, der Rosengarten, der arme Heinrich, der Pfaffe Amis, Schretel und Wasserbär (Haupts Zeitschr. 6, 174), die zwölf Tursen (Altd. Wäld. 3, 178. Konrad von Würzburg MS. 2, 205), der rosenlachende Mann in Heinrichs von Neustadt Apollonius (Alt. Wäld. 1, 72).

Man wird fragen wo die äußern Grenzen des Gemeinsamen bei den Märchen beginnen und wie die Grade der Verwandtschaft sich abstufen. Die Grenze wird bezeichnet durch den großen Volksstamm, den man den indogermanischen zu benennen pflegt, und die Verwandtschaft zieht sich in immer engern Ringen um die Wohnsitze der Deutschen, etwa in demselben Verhältnis, in welchem wir in den Sprachen der einzelnen dazu gehörigen Völker Gemeinsames

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[LXIX/0075] aller Dinge, wie nach innerm Adel der Gesinnung: das Mythische und Wunderbare, wo es noch verbleibt, muß den Schein des Geschichtlichen annehmen und als Wahrheit gelten. Nur wenig davon erträgt das Nibelungelied, nur im Hintergrund zeigen sich die Schwanenjungfrauen, selbst die Hornhaut und Unverwundbarkeit Siegfrieds war der ältern Auffassung der Edda fremd: auch der Erwerb des unsichtbar machenden Mantels statt der Annahme einer andern Gestalt, wozu Götter die Kraft besitzen, mag erst aus Märchen eingeführt sein. Jn der Dieterichssage und in der älteren Gudrun ist es bis auf leise Spuren verschwunden, gänzlich in Walther und Hildegunde. Neben der Heldensage hat das Märchen gewis ununterbrochen fort bestanden, schon in der heutigen oder einer ihr nahe kommenden Gestalt, nur weniger lückenhaft und gestört. Zeugnis davon liefern das lateinische Märchen bei Ratherius (Haupts Zeitschr. 8, 21), der Modus liebinc das Schneelied, und Modus florum (Eberts Überlieferungen 1, 79) alle drei aus dem zehnten Jahrhundert, ferner der König Laurin, Sanct Oswald, die Entführung Hagens durch den Greif in dem ersten Theil der Gudrun, der Rosengarten, der arme Heinrich, der Pfaffe Amis, Schretel und Wasserbär (Haupts Zeitschr. 6, 174), die zwölf Tursen (Altd. Wäld. 3, 178. Konrad von Würzburg MS. 2, 205), der rosenlachende Mann in Heinrichs von Neustadt Apollonius (Alt. Wäld. 1, 72). Man wird fragen wo die äußern Grenzen des Gemeinsamen bei den Märchen beginnen und wie die Grade der Verwandtschaft sich abstufen. Die Grenze wird bezeichnet durch den großen Volksstamm, den man den indogermanischen zu benennen pflegt, und die Verwandtschaft zieht sich in immer engern Ringen um die Wohnsitze der Deutschen, etwa in demselben Verhältnis, in welchem wir in den Sprachen der einzelnen dazu gehörigen Völker Gemeinsames

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850, S. LXIX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/75>, abgerufen am 06.05.2024.