Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.völlig mythische Geltung: er soll den Widerstreit des Guten und Bösen darstellen, aber nur nach der Ansicht des Gedichts, denn seinen Handlungen liegt kein Gedanke zu Grund, der uns Achtung einflößen könnte. Alles was er und seine Helden vollbringen, wird durch Trug, gemeine Verstellung und unwürdige List erreicht: er übt ohne Zaudern erbarmungslos die rohsten Grausamkeiten, schneidet dem Kind die Hand ab, die er ihm erst gestreichelt hat, und während er sich den Schein gibt, als wolle er den Segen empfangen, schlitzt er dem Lama den Leib auf und zerreißt dessen Eingeweide. Nur der Gegensatz zu dem niederträchtigen Tschotong, der, obgleich ein Fürst, Schläge hin nimmt und in knechtischer Furcht unter den Tisch kriecht, Roßäpfel und Leder als gute Speise verschluckt, hebt ihn etwas: doch menschliches Gefühl zeigt er nur in der Liebe zu seinem irdischen Vater, der gleichwohl seine Verschmitztheit empfinden muß. Wir suchen bei ihm vergeblich einen Anhauch jener edlen Gesinnung, die in dem Epos anderer Völker Lebensbedingung ist; das Gedicht steht uns in dieser Beziehung in weiter Ferne. Nur in der Klage der Tümen (S. 119), die auszieht den verlorenen Gesser zu suchen, finde ich eine bessere Stimmung, die sich auch in Sprichwörtern, Bildern und Formeln, die offenbar herkömmlich sind, erkennen läßt: Rogmo Goa, um ihren Schmerz auszudrücken, sagt (S. 81) 'das Weiße meiner Augen ist gelb geworden, das Schwarze meiner Augen ist gebleicht.' Jch löse ein paar einzelne Erzählungen ab, die ganz märchenhaft und für uns besonders merkwürdig sind. Die Darstellung darin ist gut und der Jnhalt hat die Vollständigkeit und Genauigkeit, wodurch die Auffassungen alter Zeit sich auszuzeichnen pflegen. Gessers Vater will die Eigenschaften seiner Söhne prüfen (S. 32). Er fängt ein Rebhuhn und steckt es in einen Sack, den er zubindet. Diesen Sack zu sich nehmend besteigt er einen Büffel und läßt den völlig mythische Geltung: er soll den Widerstreit des Guten und Bösen darstellen, aber nur nach der Ansicht des Gedichts, denn seinen Handlungen liegt kein Gedanke zu Grund, der uns Achtung einflößen könnte. Alles was er und seine Helden vollbringen, wird durch Trug, gemeine Verstellung und unwürdige List erreicht: er übt ohne Zaudern erbarmungslos die rohsten Grausamkeiten, schneidet dem Kind die Hand ab, die er ihm erst gestreichelt hat, und während er sich den Schein gibt, als wolle er den Segen empfangen, schlitzt er dem Lama den Leib auf und zerreißt dessen Eingeweide. Nur der Gegensatz zu dem niederträchtigen Tschotong, der, obgleich ein Fürst, Schläge hin nimmt und in knechtischer Furcht unter den Tisch kriecht, Roßäpfel und Leder als gute Speise verschluckt, hebt ihn etwas: doch menschliches Gefühl zeigt er nur in der Liebe zu seinem irdischen Vater, der gleichwohl seine Verschmitztheit empfinden muß. Wir suchen bei ihm vergeblich einen Anhauch jener edlen Gesinnung, die in dem Epos anderer Völker Lebensbedingung ist; das Gedicht steht uns in dieser Beziehung in weiter Ferne. Nur in der Klage der Tümen (S. 119), die auszieht den verlorenen Gesser zu suchen, finde ich eine bessere Stimmung, die sich auch in Sprichwörtern, Bildern und Formeln, die offenbar herkömmlich sind, erkennen läßt: Rogmo Goa, um ihren Schmerz auszudrücken, sagt (S. 81) ‘das Weiße meiner Augen ist gelb geworden, das Schwarze meiner Augen ist gebleicht.’ Jch löse ein paar einzelne Erzählungen ab, die ganz märchenhaft und für uns besonders merkwürdig sind. Die Darstellung darin ist gut und der Jnhalt hat die Vollständigkeit und Genauigkeit, wodurch die Auffassungen alter Zeit sich auszuzeichnen pflegen. Gessers Vater will die Eigenschaften seiner Söhne prüfen (S. 32). Er fängt ein Rebhuhn und steckt es in einen Sack, den er zubindet. Diesen Sack zu sich nehmend besteigt er einen Büffel und läßt den <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0045" n="XXXIX"/> völlig mythische Geltung: er soll den Widerstreit des Guten und Bösen darstellen, aber nur nach der Ansicht des Gedichts, denn seinen Handlungen liegt kein Gedanke zu Grund, der uns Achtung einflößen könnte. Alles was er und seine Helden vollbringen, wird durch Trug, gemeine Verstellung und unwürdige List erreicht: er übt ohne Zaudern erbarmungslos die rohsten Grausamkeiten, schneidet dem Kind die Hand ab, die er ihm erst gestreichelt hat, und während er sich den Schein gibt, als wolle er den Segen empfangen, schlitzt er dem Lama den Leib auf und zerreißt dessen Eingeweide. Nur der Gegensatz zu dem niederträchtigen Tschotong, der, obgleich ein Fürst, Schläge hin nimmt und in knechtischer Furcht unter den Tisch kriecht, Roßäpfel und Leder als gute Speise verschluckt, hebt ihn etwas: doch menschliches Gefühl zeigt er nur in der Liebe zu seinem irdischen Vater, der gleichwohl seine Verschmitztheit empfinden muß. Wir suchen bei ihm vergeblich einen Anhauch jener edlen Gesinnung, die in dem Epos anderer Völker Lebensbedingung ist; das Gedicht steht uns in dieser Beziehung in weiter Ferne. Nur in der Klage der Tümen (S. 119), die auszieht den verlorenen Gesser zu suchen, finde ich eine bessere Stimmung, die sich auch in Sprichwörtern, Bildern und Formeln, die offenbar herkömmlich sind, erkennen läßt: Rogmo Goa, um ihren Schmerz auszudrücken, sagt (S. 81) ‘das Weiße meiner Augen ist gelb geworden, das Schwarze meiner Augen ist gebleicht.’ Jch löse ein paar einzelne Erzählungen ab, die ganz märchenhaft und für uns besonders merkwürdig sind. Die Darstellung darin ist gut und der Jnhalt hat die Vollständigkeit und Genauigkeit, wodurch die Auffassungen alter Zeit sich auszuzeichnen pflegen.</p><lb/> <p>Gessers Vater will die Eigenschaften seiner Söhne prüfen (S. 32). Er fängt ein Rebhuhn und steckt es in einen Sack, den er zubindet. Diesen Sack zu sich nehmend besteigt er einen Büffel und läßt den </p> </div> </front> </text> </TEI> [XXXIX/0045]
völlig mythische Geltung: er soll den Widerstreit des Guten und Bösen darstellen, aber nur nach der Ansicht des Gedichts, denn seinen Handlungen liegt kein Gedanke zu Grund, der uns Achtung einflößen könnte. Alles was er und seine Helden vollbringen, wird durch Trug, gemeine Verstellung und unwürdige List erreicht: er übt ohne Zaudern erbarmungslos die rohsten Grausamkeiten, schneidet dem Kind die Hand ab, die er ihm erst gestreichelt hat, und während er sich den Schein gibt, als wolle er den Segen empfangen, schlitzt er dem Lama den Leib auf und zerreißt dessen Eingeweide. Nur der Gegensatz zu dem niederträchtigen Tschotong, der, obgleich ein Fürst, Schläge hin nimmt und in knechtischer Furcht unter den Tisch kriecht, Roßäpfel und Leder als gute Speise verschluckt, hebt ihn etwas: doch menschliches Gefühl zeigt er nur in der Liebe zu seinem irdischen Vater, der gleichwohl seine Verschmitztheit empfinden muß. Wir suchen bei ihm vergeblich einen Anhauch jener edlen Gesinnung, die in dem Epos anderer Völker Lebensbedingung ist; das Gedicht steht uns in dieser Beziehung in weiter Ferne. Nur in der Klage der Tümen (S. 119), die auszieht den verlorenen Gesser zu suchen, finde ich eine bessere Stimmung, die sich auch in Sprichwörtern, Bildern und Formeln, die offenbar herkömmlich sind, erkennen läßt: Rogmo Goa, um ihren Schmerz auszudrücken, sagt (S. 81) ‘das Weiße meiner Augen ist gelb geworden, das Schwarze meiner Augen ist gebleicht.’ Jch löse ein paar einzelne Erzählungen ab, die ganz märchenhaft und für uns besonders merkwürdig sind. Die Darstellung darin ist gut und der Jnhalt hat die Vollständigkeit und Genauigkeit, wodurch die Auffassungen alter Zeit sich auszuzeichnen pflegen.
Gessers Vater will die Eigenschaften seiner Söhne prüfen (S. 32). Er fängt ein Rebhuhn und steckt es in einen Sack, den er zubindet. Diesen Sack zu sich nehmend besteigt er einen Büffel und läßt den
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