Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.märchenhaft, sie kümmert sich um Wahrscheinlichkeit so wenig als der Gedanke bei der Auffassung des Übersinnlichen an irgend eine Schranke sich bindet: sie weiß die ausschweifendste Phantasie zu überflügeln. Ein Ochse ist so groß, daß eine Schwalbe den ganzen Tag zwischen seinen Hörnern zu fliegen hätte und das Eichhorn von dem einen Ende des Schwanzes bis zu dem andern einen ganzen Monat zu laufen, wobei es doch der Erschöpfung wegen auf der Mitte des Weges rasten müßte; das Bild wäre als Übertreibung in andern Dichtungen unerträglich gewesen, dieser Poesie ist es angemessen. Einzelne Anklänge an die deutschen Märchen sind in der Abhandlung über das finnische Epos nachgewiesen, ich will noch einiges mit jenen Gemeinschaftliche hier anmerken: der Pfad über Nadelspitzen Schwertecken und Streitäxte gleicht dem Weg über Kämme und Stacheln (Nr 79). Die Mutter zieht die einzelnen Glieder ihres zerstückten, in den Fluß geworfenen Sohns aus dem Wasser, fügt sie zusammen und wiegt sie so lange auf ihrem Schoß, bis er wieder lebendig wird, wie bei uns (Nr 46) die in dem Blut schwimmenden Glieder der zerhackten Schwester wieder belebt werden. Ganz der Geist von Kalevala, nicht minder bedeutsam, nur milder, das heißt ohne die Beimischung des Ungeheuern, offenbart sich in den Märchen der ehstländischen Finnen. Was kann anmuthiger sein als die Erzählung von der Leuchte, welche die Hallen Altvaters erhellt? Er überträgt die Sorge dafür zwei unsterblichen Dienern, einem Jüngling und einem Mädchen. Zu diesem, die Ämmarik (Abendröthe) heißt, spricht er 'Töchterchen, dir vertraue ich die Sonne, lösche sie aus und verbirg das Feuer, daß kein Schade geschieht.' Dann zu Koit (Morgenröthe) 'Söhnchen, dein Amt ist, die Leuchte zu neuem Lauf wieder anzuzünden.' Keinen Tag fehlt die Leuchte am Himmelbogen, im Winter hat märchenhaft, sie kümmert sich um Wahrscheinlichkeit so wenig als der Gedanke bei der Auffassung des Übersinnlichen an irgend eine Schranke sich bindet: sie weiß die ausschweifendste Phantasie zu überflügeln. Ein Ochse ist so groß, daß eine Schwalbe den ganzen Tag zwischen seinen Hörnern zu fliegen hätte und das Eichhorn von dem einen Ende des Schwanzes bis zu dem andern einen ganzen Monat zu laufen, wobei es doch der Erschöpfung wegen auf der Mitte des Weges rasten müßte; das Bild wäre als Übertreibung in andern Dichtungen unerträglich gewesen, dieser Poesie ist es angemessen. Einzelne Anklänge an die deutschen Märchen sind in der Abhandlung über das finnische Epos nachgewiesen, ich will noch einiges mit jenen Gemeinschaftliche hier anmerken: der Pfad über Nadelspitzen Schwertecken und Streitäxte gleicht dem Weg über Kämme und Stacheln (Nr 79). Die Mutter zieht die einzelnen Glieder ihres zerstückten, in den Fluß geworfenen Sohns aus dem Wasser, fügt sie zusammen und wiegt sie so lange auf ihrem Schoß, bis er wieder lebendig wird, wie bei uns (Nr 46) die in dem Blut schwimmenden Glieder der zerhackten Schwester wieder belebt werden. Ganz der Geist von Kalevala, nicht minder bedeutsam, nur milder, das heißt ohne die Beimischung des Ungeheuern, offenbart sich in den Märchen der ehstländischen Finnen. Was kann anmuthiger sein als die Erzählung von der Leuchte, welche die Hallen Altvaters erhellt? Er überträgt die Sorge dafür zwei unsterblichen Dienern, einem Jüngling und einem Mädchen. Zu diesem, die Ämmarik (Abendröthe) heißt, spricht er ‘Töchterchen, dir vertraue ich die Sonne, lösche sie aus und verbirg das Feuer, daß kein Schade geschieht.’ Dann zu Koit (Morgenröthe) ‘Söhnchen, dein Amt ist, die Leuchte zu neuem Lauf wieder anzuzünden.’ Keinen Tag fehlt die Leuchte am Himmelbogen, im Winter hat <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0042" n="XXXVI"/> märchenhaft, sie kümmert sich um Wahrscheinlichkeit so wenig als der Gedanke bei der Auffassung des Übersinnlichen an irgend eine Schranke sich bindet: sie weiß die ausschweifendste Phantasie zu überflügeln. Ein Ochse ist so groß, daß eine Schwalbe den ganzen Tag zwischen seinen Hörnern zu fliegen hätte und das Eichhorn von dem einen Ende des Schwanzes bis zu dem andern einen ganzen Monat zu laufen, wobei es doch der Erschöpfung wegen auf der Mitte des Weges rasten müßte; das Bild wäre als Übertreibung in andern Dichtungen unerträglich gewesen, dieser Poesie ist es angemessen. Einzelne Anklänge an die deutschen Märchen sind in der Abhandlung über das finnische Epos nachgewiesen, ich will noch einiges mit jenen Gemeinschaftliche hier anmerken: der Pfad über Nadelspitzen Schwertecken und Streitäxte gleicht dem Weg über Kämme und Stacheln (Nr 79). Die Mutter zieht die einzelnen Glieder ihres zerstückten, in den Fluß geworfenen Sohns aus dem Wasser, fügt sie zusammen und wiegt sie so lange auf ihrem Schoß, bis er wieder lebendig wird, wie bei uns (Nr 46) die in dem Blut schwimmenden Glieder der zerhackten Schwester wieder belebt werden.</p><lb/> <p>Ganz der Geist von Kalevala, nicht minder bedeutsam, nur milder, das heißt ohne die Beimischung des Ungeheuern, offenbart sich in den Märchen der <hi rendition="#g">ehstländischen</hi> Finnen. Was kann anmuthiger sein als die Erzählung von der Leuchte, welche die Hallen Altvaters erhellt? Er überträgt die Sorge dafür zwei unsterblichen Dienern, einem Jüngling und einem Mädchen. Zu diesem, die Ämmarik (Abendröthe) heißt, spricht er ‘Töchterchen, dir vertraue ich die Sonne, lösche sie aus und verbirg das Feuer, daß kein Schade geschieht.’ Dann zu Koit (Morgenröthe) ‘Söhnchen, dein Amt ist, die Leuchte zu neuem Lauf wieder anzuzünden.’ Keinen Tag fehlt die Leuchte am Himmelbogen, im Winter hat </p> </div> </front> </text> </TEI> [XXXVI/0042]
märchenhaft, sie kümmert sich um Wahrscheinlichkeit so wenig als der Gedanke bei der Auffassung des Übersinnlichen an irgend eine Schranke sich bindet: sie weiß die ausschweifendste Phantasie zu überflügeln. Ein Ochse ist so groß, daß eine Schwalbe den ganzen Tag zwischen seinen Hörnern zu fliegen hätte und das Eichhorn von dem einen Ende des Schwanzes bis zu dem andern einen ganzen Monat zu laufen, wobei es doch der Erschöpfung wegen auf der Mitte des Weges rasten müßte; das Bild wäre als Übertreibung in andern Dichtungen unerträglich gewesen, dieser Poesie ist es angemessen. Einzelne Anklänge an die deutschen Märchen sind in der Abhandlung über das finnische Epos nachgewiesen, ich will noch einiges mit jenen Gemeinschaftliche hier anmerken: der Pfad über Nadelspitzen Schwertecken und Streitäxte gleicht dem Weg über Kämme und Stacheln (Nr 79). Die Mutter zieht die einzelnen Glieder ihres zerstückten, in den Fluß geworfenen Sohns aus dem Wasser, fügt sie zusammen und wiegt sie so lange auf ihrem Schoß, bis er wieder lebendig wird, wie bei uns (Nr 46) die in dem Blut schwimmenden Glieder der zerhackten Schwester wieder belebt werden.
Ganz der Geist von Kalevala, nicht minder bedeutsam, nur milder, das heißt ohne die Beimischung des Ungeheuern, offenbart sich in den Märchen der ehstländischen Finnen. Was kann anmuthiger sein als die Erzählung von der Leuchte, welche die Hallen Altvaters erhellt? Er überträgt die Sorge dafür zwei unsterblichen Dienern, einem Jüngling und einem Mädchen. Zu diesem, die Ämmarik (Abendröthe) heißt, spricht er ‘Töchterchen, dir vertraue ich die Sonne, lösche sie aus und verbirg das Feuer, daß kein Schade geschieht.’ Dann zu Koit (Morgenröthe) ‘Söhnchen, dein Amt ist, die Leuchte zu neuem Lauf wieder anzuzünden.’ Keinen Tag fehlt die Leuchte am Himmelbogen, im Winter hat
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