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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.

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noch aus einer andern Überlieferung, die zu den bedeutendsten gehört und am besten den Gehalt dieser Märchen erkennen läßt, einige Züge mittheilen. Der erste Mensch, der alte Chappewee, findet auf der Erde weder Männer noch Weiber noch Kinder. Er schafft Kinder und gibt ihnen zweierlei Früchte, weiße und schwarze, verbietet ihnen aber von den schwarzen zu essen. Da die Erde noch nicht von den Strahlen der Sonne erleuchtet ist, so geht er fort die prächtige Scheibe zu holen. Nach langer Abwesenheit bringt er sie herbei, und sie beginnt nun ihr glänzendes Licht gewisse Stunden hindurch über die Erde auszuströmen. Mit Freude bemerkt er daß seine Kinder nur von den weißen Früchten gegessen, mithin Krankheit und Tod noch keine Gewalt über sie erlangt hatten. Aber die Sonne leuchtet nicht zu aller Zeit: der Alte geht abermals fort um die Lampe der dunkeln Stunden, den Mond herbei zu holen. Als er sie herbei bringt, merkt er gleich an den Augen der Kinder daß sie von der verbotenen Frucht genossen haben. Er ist nicht ohne Schuld, denn ehe er weggieng hatte er vergessen sie mit einem Vorrath von weißen Früchten zu versorgen und der Hunger sie gezwungen von den schwarzen zu genießen. Jetzt kommt Krankheit und Tod in die Welt, Miswachs, Mühseligkeit und Qual. Chappewee sieht mehr als zwanzig Geschlechter verschwinden, er selbst ist dem Tod nicht unterworfen. Hundertmal sind ihm die Zähne ausgefallen und neue gekommen, ebenso oft haben Zunge und Augen sich ersetzt: aber er ist des Lebens müde und will sterben. Da schickt er einen von den Seinigen zu dem kleinen klugen Volk, zu den Bibern, von denen einer bewogen wird sich sieben von seinen scharfen Zähnen ausreißen zu lassen. Der Alte erhält was er verlangt und befiehlt einen von diesen Zähnen ihm in jeden Schlaf, einen in die Mitte der Stirne, einen in jede Seite, einen in die Höhle des Rückens, einen in die große Zehe des rechten

noch aus einer andern Überlieferung, die zu den bedeutendsten gehört und am besten den Gehalt dieser Märchen erkennen läßt, einige Züge mittheilen. Der erste Mensch, der alte Chappewee, findet auf der Erde weder Männer noch Weiber noch Kinder. Er schafft Kinder und gibt ihnen zweierlei Früchte, weiße und schwarze, verbietet ihnen aber von den schwarzen zu essen. Da die Erde noch nicht von den Strahlen der Sonne erleuchtet ist, so geht er fort die prächtige Scheibe zu holen. Nach langer Abwesenheit bringt er sie herbei, und sie beginnt nun ihr glänzendes Licht gewisse Stunden hindurch über die Erde auszuströmen. Mit Freude bemerkt er daß seine Kinder nur von den weißen Früchten gegessen, mithin Krankheit und Tod noch keine Gewalt über sie erlangt hatten. Aber die Sonne leuchtet nicht zu aller Zeit: der Alte geht abermals fort um die Lampe der dunkeln Stunden, den Mond herbei zu holen. Als er sie herbei bringt, merkt er gleich an den Augen der Kinder daß sie von der verbotenen Frucht genossen haben. Er ist nicht ohne Schuld, denn ehe er weggieng hatte er vergessen sie mit einem Vorrath von weißen Früchten zu versorgen und der Hunger sie gezwungen von den schwarzen zu genießen. Jetzt kommt Krankheit und Tod in die Welt, Miswachs, Mühseligkeit und Qual. Chappewee sieht mehr als zwanzig Geschlechter verschwinden, er selbst ist dem Tod nicht unterworfen. Hundertmal sind ihm die Zähne ausgefallen und neue gekommen, ebenso oft haben Zunge und Augen sich ersetzt: aber er ist des Lebens müde und will sterben. Da schickt er einen von den Seinigen zu dem kleinen klugen Volk, zu den Bibern, von denen einer bewogen wird sich sieben von seinen scharfen Zähnen ausreißen zu lassen. Der Alte erhält was er verlangt und befiehlt einen von diesen Zähnen ihm in jeden Schlaf, einen in die Mitte der Stirne, einen in jede Seite, einen in die Höhle des Rückens, einen in die große Zehe des rechten

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noch aus einer andern Überlieferung, die zu den bedeutendsten gehört und am besten den Gehalt dieser Märchen erkennen läßt, einige Züge mittheilen. Der erste Mensch, der alte Chappewee, findet auf der Erde weder Männer noch Weiber noch Kinder. Er schafft Kinder und gibt ihnen zweierlei Früchte, weiße und schwarze, verbietet ihnen aber von den schwarzen zu essen. Da die Erde noch nicht von den Strahlen der Sonne erleuchtet ist, so geht er fort die prächtige Scheibe zu holen. Nach langer Abwesenheit bringt er sie herbei, und sie beginnt nun ihr glänzendes Licht gewisse Stunden hindurch über die Erde auszuströmen. Mit Freude bemerkt er daß seine Kinder nur von den weißen Früchten gegessen, mithin Krankheit und Tod noch keine Gewalt über sie erlangt hatten. Aber die Sonne leuchtet nicht zu aller Zeit: der Alte geht abermals fort um die Lampe der dunkeln Stunden, den Mond herbei zu holen. Als er sie herbei bringt, merkt er gleich an den Augen der Kinder daß sie von der verbotenen Frucht genossen haben. Er ist nicht ohne Schuld, denn ehe er weggieng hatte er vergessen sie mit einem Vorrath von weißen Früchten zu versorgen und der Hunger sie gezwungen von den schwarzen zu genießen. Jetzt kommt Krankheit und Tod in die Welt, Miswachs, Mühseligkeit und Qual. Chappewee sieht mehr als zwanzig Geschlechter verschwinden, er selbst ist dem Tod nicht unterworfen. Hundertmal sind ihm die Zähne ausgefallen und neue gekommen, ebenso oft haben Zunge und Augen sich ersetzt: aber er ist des Lebens müde und will sterben. Da schickt er einen von den Seinigen zu dem kleinen klugen Volk, zu den Bibern, von denen einer bewogen wird sich sieben von seinen scharfen Zähnen ausreißen zu lassen. Der Alte erhält was er verlangt und befiehlt einen von diesen Zähnen ihm in jeden Schlaf, einen in die Mitte der Stirne, einen in jede Seite, einen in die Höhle des Rückens, einen in die große Zehe des rechten
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[XXXII/0038] noch aus einer andern Überlieferung, die zu den bedeutendsten gehört und am besten den Gehalt dieser Märchen erkennen läßt, einige Züge mittheilen. Der erste Mensch, der alte Chappewee, findet auf der Erde weder Männer noch Weiber noch Kinder. Er schafft Kinder und gibt ihnen zweierlei Früchte, weiße und schwarze, verbietet ihnen aber von den schwarzen zu essen. Da die Erde noch nicht von den Strahlen der Sonne erleuchtet ist, so geht er fort die prächtige Scheibe zu holen. Nach langer Abwesenheit bringt er sie herbei, und sie beginnt nun ihr glänzendes Licht gewisse Stunden hindurch über die Erde auszuströmen. Mit Freude bemerkt er daß seine Kinder nur von den weißen Früchten gegessen, mithin Krankheit und Tod noch keine Gewalt über sie erlangt hatten. Aber die Sonne leuchtet nicht zu aller Zeit: der Alte geht abermals fort um die Lampe der dunkeln Stunden, den Mond herbei zu holen. Als er sie herbei bringt, merkt er gleich an den Augen der Kinder daß sie von der verbotenen Frucht genossen haben. Er ist nicht ohne Schuld, denn ehe er weggieng hatte er vergessen sie mit einem Vorrath von weißen Früchten zu versorgen und der Hunger sie gezwungen von den schwarzen zu genießen. Jetzt kommt Krankheit und Tod in die Welt, Miswachs, Mühseligkeit und Qual. Chappewee sieht mehr als zwanzig Geschlechter verschwinden, er selbst ist dem Tod nicht unterworfen. Hundertmal sind ihm die Zähne ausgefallen und neue gekommen, ebenso oft haben Zunge und Augen sich ersetzt: aber er ist des Lebens müde und will sterben. Da schickt er einen von den Seinigen zu dem kleinen klugen Volk, zu den Bibern, von denen einer bewogen wird sich sieben von seinen scharfen Zähnen ausreißen zu lassen. Der Alte erhält was er verlangt und befiehlt einen von diesen Zähnen ihm in jeden Schlaf, einen in die Mitte der Stirne, einen in jede Seite, einen in die Höhle des Rückens, einen in die große Zehe des rechten

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850, S. XXXII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/38>, abgerufen am 16.04.2024.