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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843.

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der grünen Wiese unter einen Baum, und fieng an einzuschlafen.

Nicht lange darnach kam die alte Geis aus dem Walde wieder heim. Ach, was mußte sie da erblicken! Die Hausthüre stand sperrweit auf: Tisch, Stühle und Bänke waren umgeworfen, die Waschschüssel lag in Scherben, Decke und Kissen waren aus dem Bett gezogen. Sie suchte ihre Kinder, aber nirgends waren sie zu finden. Sie rief sie nacheinander bei Namen, aber keins gab Antwort, bis sie an das jüngste kam, das rief 'liebe Mutter, ich stecke im Uhrkasten,' sprang heraus, und erzählte ihr was geschehen war, daß der Wolf gekommen wäre, und die andern alle gefressen hätte. Da könnt ihr denken wie sie über ihre armen Kinder geweint hat.

Endlich gieng sie in ihrem Jammer hinaus, und das jüngste Geislein lief mit. Und als sie auf die Wiese kam, so lag da der Wolf an dem Baum, und schnarchte daß die Äste zitterten. Sie betrachtete ihn von allen Seiten, und sah daß in seinem angefüllten Bauch sich etwas regte und zappelte. 'Ach Gott,' dachte sie, 'sollten meine armen Kinder, die er zum Abendbrot hinunter gewürgt hat, noch am Leben sein?' Da mußte das Geislein nach Haus laufen, und Scheere, Nadel und Zwirn holen. Dann schnitt sie dem Ungethüm den Wanst auf, und kaum hatte sie einen Schnitt gethan, so streckte schon ein Geislein den Kopf heraus, und als sie weiter schnitt, so sprangen nacheinander alle sechse heraus, und waren noch alle am Leben, und hatten nicht einmal Schaden gelitten, denn der Wolf hatte sie in der Gier ganz hinunter geschluckt. Was war das für eine Freude! Da herzten sie ihre liebe Mutter,

der grünen Wiese unter einen Baum, und fieng an einzuschlafen.

Nicht lange darnach kam die alte Geis aus dem Walde wieder heim. Ach, was mußte sie da erblicken! Die Hausthüre stand sperrweit auf: Tisch, Stühle und Bänke waren umgeworfen, die Waschschüssel lag in Scherben, Decke und Kissen waren aus dem Bett gezogen. Sie suchte ihre Kinder, aber nirgends waren sie zu finden. Sie rief sie nacheinander bei Namen, aber keins gab Antwort, bis sie an das jüngste kam, das rief ‘liebe Mutter, ich stecke im Uhrkasten,’ sprang heraus, und erzählte ihr was geschehen war, daß der Wolf gekommen wäre, und die andern alle gefressen hätte. Da könnt ihr denken wie sie über ihre armen Kinder geweint hat.

Endlich gieng sie in ihrem Jammer hinaus, und das jüngste Geislein lief mit. Und als sie auf die Wiese kam, so lag da der Wolf an dem Baum, und schnarchte daß die Äste zitterten. Sie betrachtete ihn von allen Seiten, und sah daß in seinem angefüllten Bauch sich etwas regte und zappelte. ‘Ach Gott,’ dachte sie, ‘sollten meine armen Kinder, die er zum Abendbrot hinunter gewürgt hat, noch am Leben sein?’ Da mußte das Geislein nach Haus laufen, und Scheere, Nadel und Zwirn holen. Dann schnitt sie dem Ungethüm den Wanst auf, und kaum hatte sie einen Schnitt gethan, so streckte schon ein Geislein den Kopf heraus, und als sie weiter schnitt, so sprangen nacheinander alle sechse heraus, und waren noch alle am Leben, und hatten nicht einmal Schaden gelitten, denn der Wolf hatte sie in der Gier ganz hinunter geschluckt. Was war das für eine Freude! Da herzten sie ihre liebe Mutter,

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[32/0070] der grünen Wiese unter einen Baum, und fieng an einzuschlafen. Nicht lange darnach kam die alte Geis aus dem Walde wieder heim. Ach, was mußte sie da erblicken! Die Hausthüre stand sperrweit auf: Tisch, Stühle und Bänke waren umgeworfen, die Waschschüssel lag in Scherben, Decke und Kissen waren aus dem Bett gezogen. Sie suchte ihre Kinder, aber nirgends waren sie zu finden. Sie rief sie nacheinander bei Namen, aber keins gab Antwort, bis sie an das jüngste kam, das rief ‘liebe Mutter, ich stecke im Uhrkasten,’ sprang heraus, und erzählte ihr was geschehen war, daß der Wolf gekommen wäre, und die andern alle gefressen hätte. Da könnt ihr denken wie sie über ihre armen Kinder geweint hat. Endlich gieng sie in ihrem Jammer hinaus, und das jüngste Geislein lief mit. Und als sie auf die Wiese kam, so lag da der Wolf an dem Baum, und schnarchte daß die Äste zitterten. Sie betrachtete ihn von allen Seiten, und sah daß in seinem angefüllten Bauch sich etwas regte und zappelte. ‘Ach Gott,’ dachte sie, ‘sollten meine armen Kinder, die er zum Abendbrot hinunter gewürgt hat, noch am Leben sein?’ Da mußte das Geislein nach Haus laufen, und Scheere, Nadel und Zwirn holen. Dann schnitt sie dem Ungethüm den Wanst auf, und kaum hatte sie einen Schnitt gethan, so streckte schon ein Geislein den Kopf heraus, und als sie weiter schnitt, so sprangen nacheinander alle sechse heraus, und waren noch alle am Leben, und hatten nicht einmal Schaden gelitten, denn der Wolf hatte sie in der Gier ganz hinunter geschluckt. Was war das für eine Freude! Da herzten sie ihre liebe Mutter,

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1843/70>, abgerufen am 27.04.2024.