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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843.

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noch reich an ererbten Gebräuchen und Liedern. Da, wo die Schrift theils noch nicht durch Einführung des Fremden stört, oder durch Überladung abstumpft, theils, weil sie sichert, dem Gedächtnis noch nicht nachlässig zu werden gestattet, überhaupt bei Völkern, deren Literatur unbedeutend ist, pflegt sich als Ersatz die Überlieferung stärker und ungetrübter zu zeigen. So scheint auch Niedersachsen mehr als andere Gegenden behalten zu haben. Was für eine viel vollständigere und innerlich reichere Sammlung wäre im 15ten Jahrhundert, oder auch noch im 16ten zu Hans Sachsens und Fischarts Zeiten in Deutschland möglich gewesen*).

Einer jener guten Zufälle aber war es, daß wir aus dem bei Cassel gelegenen Dorfe Niederzwehrn eine Bäuerin kennen lernten, die uns die

*) Merkwürdig ist daß bei den Galliern nicht erlaubt war die überlieferten Gesänge aufzuschreiben, während man sich der Schrift in allen übrigen Angelegenheiten bediente. Cäsar, der dies anmerkt (de B. G. VI. 4.), glaubt daß man damit habe verhüten wollen, im Vertrauen auf die Schrift, leichtsinnig im Erlernen und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus hält dem Theuth (im Phädrus des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachtheil vor, den die Schrift auf die Ausbildung des Gedächtnisses haben würde.

noch reich an ererbten Gebräuchen und Liedern. Da, wo die Schrift theils noch nicht durch Einführung des Fremden stört, oder durch Überladung abstumpft, theils, weil sie sichert, dem Gedächtnis noch nicht nachlässig zu werden gestattet, überhaupt bei Völkern, deren Literatur unbedeutend ist, pflegt sich als Ersatz die Überlieferung stärker und ungetrübter zu zeigen. So scheint auch Niedersachsen mehr als andere Gegenden behalten zu haben. Was für eine viel vollständigere und innerlich reichere Sammlung wäre im 15ten Jahrhundert, oder auch noch im 16ten zu Hans Sachsens und Fischarts Zeiten in Deutschland möglich gewesen*).

Einer jener guten Zufälle aber war es, daß wir aus dem bei Cassel gelegenen Dorfe Niederzwehrn eine Bäuerin kennen lernten, die uns die

*) Merkwürdig ist daß bei den Galliern nicht erlaubt war die überlieferten Gesänge aufzuschreiben, während man sich der Schrift in allen übrigen Angelegenheiten bediente. Cäsar, der dies anmerkt (de B. G. VI. 4.), glaubt daß man damit habe verhüten wollen, im Vertrauen auf die Schrift, leichtsinnig im Erlernen und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus hält dem Theuth (im Phädrus des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachtheil vor, den die Schrift auf die Ausbildung des Gedächtnisses haben würde.
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[XVII/0021] noch reich an ererbten Gebräuchen und Liedern. Da, wo die Schrift theils noch nicht durch Einführung des Fremden stört, oder durch Überladung abstumpft, theils, weil sie sichert, dem Gedächtnis noch nicht nachlässig zu werden gestattet, überhaupt bei Völkern, deren Literatur unbedeutend ist, pflegt sich als Ersatz die Überlieferung stärker und ungetrübter zu zeigen. So scheint auch Niedersachsen mehr als andere Gegenden behalten zu haben. Was für eine viel vollständigere und innerlich reichere Sammlung wäre im 15ten Jahrhundert, oder auch noch im 16ten zu Hans Sachsens und Fischarts Zeiten in Deutschland möglich gewesen *). Einer jener guten Zufälle aber war es, daß wir aus dem bei Cassel gelegenen Dorfe Niederzwehrn eine Bäuerin kennen lernten, die uns die *) Merkwürdig ist daß bei den Galliern nicht erlaubt war die überlieferten Gesänge aufzuschreiben, während man sich der Schrift in allen übrigen Angelegenheiten bediente. Cäsar, der dies anmerkt (de B. G. VI. 4.), glaubt daß man damit habe verhüten wollen, im Vertrauen auf die Schrift, leichtsinnig im Erlernen und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus hält dem Theuth (im Phädrus des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachtheil vor, den die Schrift auf die Ausbildung des Gedächtnisses haben würde.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843, S. XVII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1843/21>, abgerufen am 26.04.2024.