Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

aber war seine Hexe, und hatte wohl gesehen wie die beiden Kinder fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen, und hatte alle Brunnen im Walde verwünscht. Als sie nun ein Brünnlein fanden, das so glitzerig über die Steine sprang, wollte das Brüderchen daraus trinken; aber das Schwesterchen hörte wie es im Rauschen sprach 'wer aus mir trinkt, wird ein Tiger; wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.' Da rief das Schwesterchen 'ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Thier, und zerreißest mich.' Das Brüderchen trank nicht, ob es gleich so großen Durst hatte, und sprach 'ich will warten bis zur nächsten Quelle.' Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen wie auch dieses sprach 'wer aus mir trinkt, wird ein Wolf; wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.' Da rief das Schwesterchen 'Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich.' Das Brüderchen trank nicht, und sprach 'ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst: mein Durst ist gar zu groß.' Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach 'wer aus mir trinkt, wird ein Reh; wer aus mir trinkt, wird ein Reh.' Das Schwesterchen sprach 'ach Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Reh, und läufst mir fort.' Aber das Brüderchen hatte sich gleich beim Brünnlein nieder geknieet, hinab gebeugt und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.

aber war seine Hexe, und hatte wohl gesehen wie die beiden Kinder fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen, und hatte alle Brunnen im Walde verwünscht. Als sie nun ein Brünnlein fanden, das so glitzerig über die Steine sprang, wollte das Brüderchen daraus trinken; aber das Schwesterchen hörte wie es im Rauschen sprach ‘wer aus mir trinkt, wird ein Tiger; wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.’ Da rief das Schwesterchen ‘ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Thier, und zerreißest mich.’ Das Brüderchen trank nicht, ob es gleich so großen Durst hatte, und sprach ‘ich will warten bis zur nächsten Quelle.’ Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen wie auch dieses sprach ‘wer aus mir trinkt, wird ein Wolf; wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.’ Da rief das Schwesterchen ‘Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich.’ Das Brüderchen trank nicht, und sprach ‘ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst: mein Durst ist gar zu groß.’ Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach ‘wer aus mir trinkt, wird ein Reh; wer aus mir trinkt, wird ein Reh.’ Das Schwesterchen sprach ‘ach Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Reh, und läufst mir fort.’ Aber das Brüderchen hatte sich gleich beim Brünnlein nieder geknieet, hinab gebeugt und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0104" n="66"/>
aber war seine Hexe, und hatte wohl gesehen wie die beiden Kinder fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen, und hatte alle Brunnen im Walde verwünscht. Als sie nun ein Brünnlein fanden, das so glitzerig über die Steine sprang, wollte das Brüderchen daraus trinken; aber das Schwesterchen hörte wie es im Rauschen sprach &#x2018;wer aus mir trinkt, wird ein Tiger; wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.&#x2019; Da rief das Schwesterchen &#x2018;ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Thier, und zerreißest mich.&#x2019; Das Brüderchen trank nicht, ob es gleich so großen Durst hatte, und sprach &#x2018;ich will warten bis zur nächsten Quelle.&#x2019; Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen wie auch dieses sprach &#x2018;wer aus mir trinkt, wird ein Wolf; wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.&#x2019; Da rief das Schwesterchen &#x2018;Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich.&#x2019; Das Brüderchen trank nicht, und sprach &#x2018;ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst: mein Durst ist gar zu groß.&#x2019; Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach &#x2018;wer aus mir trinkt, wird ein Reh; wer aus mir trinkt, wird ein Reh.&#x2019; Das Schwesterchen sprach &#x2018;ach Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Reh, und läufst mir fort.&#x2019; Aber das Brüderchen hatte sich gleich beim Brünnlein nieder geknieet, hinab gebeugt und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[66/0104] aber war seine Hexe, und hatte wohl gesehen wie die beiden Kinder fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen, und hatte alle Brunnen im Walde verwünscht. Als sie nun ein Brünnlein fanden, das so glitzerig über die Steine sprang, wollte das Brüderchen daraus trinken; aber das Schwesterchen hörte wie es im Rauschen sprach ‘wer aus mir trinkt, wird ein Tiger; wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.’ Da rief das Schwesterchen ‘ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Thier, und zerreißest mich.’ Das Brüderchen trank nicht, ob es gleich so großen Durst hatte, und sprach ‘ich will warten bis zur nächsten Quelle.’ Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen wie auch dieses sprach ‘wer aus mir trinkt, wird ein Wolf; wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.’ Da rief das Schwesterchen ‘Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich.’ Das Brüderchen trank nicht, und sprach ‘ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst: mein Durst ist gar zu groß.’ Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach ‘wer aus mir trinkt, wird ein Reh; wer aus mir trinkt, wird ein Reh.’ Das Schwesterchen sprach ‘ach Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Reh, und läufst mir fort.’ Aber das Brüderchen hatte sich gleich beim Brünnlein nieder geknieet, hinab gebeugt und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-01T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1843/104
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1843/104>, abgerufen am 03.12.2024.