Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840.Da antwortete der Spiegel 'Frau Königin, ihr seyd die schönste hier, aber Sneewittchen über den Bergen bei den sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner als ihr.' Da erschrack sie, denn sie wußte, daß der Spiegel keine Unwahrheit sprach, und merkte daß der Jäger sie betrogen hatte, und Sneewittchen noch am Leben war. Und da sann und sann sie aufs neue, wie sie es umbringen wollte; denn so lange sie nicht die schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht, und kleidete sich wie eine alte Krämerin, und war ganz unkenntlich. Jn dieser Gestalt gieng sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Thüre, und rief 'schöne Waare feil! feil!' Sneewittchen guckte zum Fenster heraus, und rief 'guten Tag, liebe Frau, was habt ihr zu verkaufen?' 'Gute Waare, schöne Waare' antwortete sie, 'Schnürriemen von allen Farben,' dabei holte sie einen hervor, der aus bunter Seide geflochten war. 'Die ehrliche Frau kann ich herein lassen' dachte Sneewittchen, riegelte die Thüre auf, und kaufte sich den hübschen Schnürriemen. 'Kind,' sprach die Alte, 'wie du aussiehst! komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren.' Sneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie, und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren; aber die Alte schnürte geschwind, und schnürte so fest, daß dem Sneewittchen Da antwortete der Spiegel ‘Frau Königin, ihr seyd die schönste hier, aber Sneewittchen über den Bergen bei den sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner als ihr.’ Da erschrack sie, denn sie wußte, daß der Spiegel keine Unwahrheit sprach, und merkte daß der Jäger sie betrogen hatte, und Sneewittchen noch am Leben war. Und da sann und sann sie aufs neue, wie sie es umbringen wollte; denn so lange sie nicht die schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht, und kleidete sich wie eine alte Krämerin, und war ganz unkenntlich. Jn dieser Gestalt gieng sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Thüre, und rief ‘schöne Waare feil! feil!’ Sneewittchen guckte zum Fenster heraus, und rief ‘guten Tag, liebe Frau, was habt ihr zu verkaufen?’ ‘Gute Waare, schöne Waare’ antwortete sie, ‘Schnürriemen von allen Farben,’ dabei holte sie einen hervor, der aus bunter Seide geflochten war. ‘Die ehrliche Frau kann ich herein lassen’ dachte Sneewittchen, riegelte die Thüre auf, und kaufte sich den hübschen Schnürriemen. ‘Kind,’ sprach die Alte, ‘wie du aussiehst! komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren.’ Sneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie, und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren; aber die Alte schnürte geschwind, und schnürte so fest, daß dem Sneewittchen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0367" n="318"/> <p> Da antwortete der Spiegel</p><lb/> <lg type="poem"> <l>‘Frau Königin, ihr seyd die schönste hier,</l><lb/> <l>aber Sneewittchen über den Bergen</l><lb/> <l>bei den sieben Zwergen</l><lb/> <l>ist noch tausendmal schöner als ihr.’</l><lb/> </lg> <p>Da erschrack sie, denn sie wußte, daß der Spiegel keine Unwahrheit sprach, und merkte daß der Jäger sie betrogen hatte, und Sneewittchen noch am Leben war. Und da sann und sann sie aufs neue, wie sie es umbringen wollte; denn so lange sie nicht die schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht, und kleidete sich wie eine alte Krämerin, und war ganz unkenntlich. Jn dieser Gestalt gieng sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Thüre, und rief ‘schöne Waare feil! feil!’ Sneewittchen guckte zum Fenster heraus, und rief ‘guten Tag, liebe Frau, was habt ihr zu verkaufen?’ ‘Gute Waare, schöne Waare’ antwortete sie, ‘Schnürriemen von allen Farben,’ dabei holte sie einen hervor, der aus bunter Seide geflochten war. ‘Die ehrliche Frau kann ich herein lassen’ dachte Sneewittchen, riegelte die Thüre auf, und kaufte sich den hübschen Schnürriemen. ‘Kind,’ sprach die Alte, ‘wie du aussiehst! komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren.’ Sneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie, und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren; aber die Alte schnürte geschwind, und schnürte so fest, daß dem Sneewittchen </p> </div> </body> </text> </TEI> [318/0367]
Da antwortete der Spiegel
‘Frau Königin, ihr seyd die schönste hier,
aber Sneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als ihr.’
Da erschrack sie, denn sie wußte, daß der Spiegel keine Unwahrheit sprach, und merkte daß der Jäger sie betrogen hatte, und Sneewittchen noch am Leben war. Und da sann und sann sie aufs neue, wie sie es umbringen wollte; denn so lange sie nicht die schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht, und kleidete sich wie eine alte Krämerin, und war ganz unkenntlich. Jn dieser Gestalt gieng sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Thüre, und rief ‘schöne Waare feil! feil!’ Sneewittchen guckte zum Fenster heraus, und rief ‘guten Tag, liebe Frau, was habt ihr zu verkaufen?’ ‘Gute Waare, schöne Waare’ antwortete sie, ‘Schnürriemen von allen Farben,’ dabei holte sie einen hervor, der aus bunter Seide geflochten war. ‘Die ehrliche Frau kann ich herein lassen’ dachte Sneewittchen, riegelte die Thüre auf, und kaufte sich den hübschen Schnürriemen. ‘Kind,’ sprach die Alte, ‘wie du aussiehst! komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren.’ Sneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie, und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren; aber die Alte schnürte geschwind, und schnürte so fest, daß dem Sneewittchen
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