Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.vorbei kamen, faßte der Riese die Krone des Baumes, wo die zeitigsten Früchte hiengen, bog sie herab, gab sie dem Schneider in die Hand und hieß ihn essen. Das Schneiderlein aber war viel zu schwach, um den Baum zu halten, und als der Riese los ließ, fuhr der Baum in die Höhe, und der Schneider ward mit in die Luft geschnellt. 'Was ist das?' sprach der Riese, 'hast du nicht die Kraft, die schwache Gerte zu halten?' 'An der Kraft fehlt es nicht,' antwortete das Schneiderlein, 'meinst du das wäre etwas für einen, der siebene mit einem Streich getroffen hat? ich bin über den Baum gesprungen, weil die Jäger da unten in das Gebüsch schießen. Spring nach, wenn dus vermagst.' Der Riese machte den Versuch, konnte aber nicht über den Baum kommen, sondern blieb in den Aesten hängen, also daß das Schneiderlein auch hier die Oberhand behielt. Der Riese sprach 'wenn du ein so tapferer Kerl bist, so komm mit in unsere Höhle, und übernachte bei uns.' Das Schneiderlein war bereit, und folgte ihm. Als sie in der Höhle anlangten, saßen da noch andere Riesen beim Feuer, und jeder hatte ein gebratenes Schaf in der Hand, und aß davon. Das Schneiderlein sah sich um, und dachte, 'es ist doch hier viel weitläuftiger als in meiner Werkstatt.' Der Riese wies ihm ein Bett an, und sagte er solle sich hinein legen und ausschlafen. Dem Schneiderlein war aber das Bett zu groß, es legte sich nicht hinein, sondern kroch in eine Ecke. Als es Mitternacht war, und der Riese meinte das Schneiderlein läge in tiefem Schlafe, so stand er auf, nahm eine große Eisenstange und vorbei kamen, faßte der Riese die Krone des Baumes, wo die zeitigsten Fruͤchte hiengen, bog sie herab, gab sie dem Schneider in die Hand und hieß ihn essen. Das Schneiderlein aber war viel zu schwach, um den Baum zu halten, und als der Riese los ließ, fuhr der Baum in die Hoͤhe, und der Schneider ward mit in die Luft geschnellt. ‘Was ist das?’ sprach der Riese, ‘hast du nicht die Kraft, die schwache Gerte zu halten?’ ‘An der Kraft fehlt es nicht,’ antwortete das Schneiderlein, ’meinst du das waͤre etwas fuͤr einen, der siebene mit einem Streich getroffen hat? ich bin uͤber den Baum gesprungen, weil die Jaͤger da unten in das Gebuͤsch schießen. Spring nach, wenn dus vermagst.’ Der Riese machte den Versuch, konnte aber nicht uͤber den Baum kommen, sondern blieb in den Aesten haͤngen, also daß das Schneiderlein auch hier die Oberhand behielt. Der Riese sprach ‘wenn du ein so tapferer Kerl bist, so komm mit in unsere Hoͤhle, und uͤbernachte bei uns.’ Das Schneiderlein war bereit, und folgte ihm. Als sie in der Hoͤhle anlangten, saßen da noch andere Riesen beim Feuer, und jeder hatte ein gebratenes Schaf in der Hand, und aß davon. Das Schneiderlein sah sich um, und dachte, ‘es ist doch hier viel weitlaͤuftiger als in meiner Werkstatt.’ Der Riese wies ihm ein Bett an, und sagte er solle sich hinein legen und ausschlafen. Dem Schneiderlein war aber das Bett zu groß, es legte sich nicht hinein, sondern kroch in eine Ecke. Als es Mitternacht war, und der Riese meinte das Schneiderlein laͤge in tiefem Schlafe, so stand er auf, nahm eine große Eisenstange und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0160" n="129"/> vorbei kamen, faßte der Riese die Krone des Baumes, wo die zeitigsten Fruͤchte hiengen, bog sie herab, gab sie dem Schneider in die Hand und hieß ihn essen. Das Schneiderlein aber war viel zu schwach, um den Baum zu halten, und als der Riese los ließ, fuhr der Baum in die Hoͤhe, und der Schneider ward mit in die Luft geschnellt. ‘Was ist das?’ sprach der Riese, ‘hast du nicht die Kraft, die schwache Gerte zu halten?’ ‘An der Kraft fehlt es nicht,’ antwortete das Schneiderlein, ’meinst du das waͤre etwas fuͤr einen, der siebene mit einem Streich getroffen hat? ich bin uͤber den Baum gesprungen, weil die Jaͤger da unten in das Gebuͤsch schießen. Spring nach, wenn dus vermagst.’ Der Riese machte den Versuch, konnte aber nicht uͤber den Baum kommen, sondern blieb in den Aesten haͤngen, also daß das Schneiderlein auch hier die Oberhand behielt.</p><lb/> <p>Der Riese sprach ‘wenn du ein so tapferer Kerl bist, so komm mit in unsere Hoͤhle, und uͤbernachte bei uns.’ Das Schneiderlein war bereit, und folgte ihm. Als sie in der Hoͤhle anlangten, saßen da noch andere Riesen beim Feuer, und jeder hatte ein gebratenes Schaf in der Hand, und aß davon. Das Schneiderlein sah sich um, und dachte, ‘es ist doch hier viel weitlaͤuftiger als in meiner Werkstatt.’ Der Riese wies ihm ein Bett an, und sagte er solle sich hinein legen und ausschlafen. Dem Schneiderlein war aber das Bett zu groß, es legte sich nicht hinein, sondern kroch in eine Ecke. Als es Mitternacht war, und der Riese meinte das Schneiderlein laͤge in tiefem Schlafe, so stand er auf, nahm eine große Eisenstange und </p> </div> </body> </text> </TEI> [129/0160]
vorbei kamen, faßte der Riese die Krone des Baumes, wo die zeitigsten Fruͤchte hiengen, bog sie herab, gab sie dem Schneider in die Hand und hieß ihn essen. Das Schneiderlein aber war viel zu schwach, um den Baum zu halten, und als der Riese los ließ, fuhr der Baum in die Hoͤhe, und der Schneider ward mit in die Luft geschnellt. ‘Was ist das?’ sprach der Riese, ‘hast du nicht die Kraft, die schwache Gerte zu halten?’ ‘An der Kraft fehlt es nicht,’ antwortete das Schneiderlein, ’meinst du das waͤre etwas fuͤr einen, der siebene mit einem Streich getroffen hat? ich bin uͤber den Baum gesprungen, weil die Jaͤger da unten in das Gebuͤsch schießen. Spring nach, wenn dus vermagst.’ Der Riese machte den Versuch, konnte aber nicht uͤber den Baum kommen, sondern blieb in den Aesten haͤngen, also daß das Schneiderlein auch hier die Oberhand behielt.
Der Riese sprach ‘wenn du ein so tapferer Kerl bist, so komm mit in unsere Hoͤhle, und uͤbernachte bei uns.’ Das Schneiderlein war bereit, und folgte ihm. Als sie in der Hoͤhle anlangten, saßen da noch andere Riesen beim Feuer, und jeder hatte ein gebratenes Schaf in der Hand, und aß davon. Das Schneiderlein sah sich um, und dachte, ‘es ist doch hier viel weitlaͤuftiger als in meiner Werkstatt.’ Der Riese wies ihm ein Bett an, und sagte er solle sich hinein legen und ausschlafen. Dem Schneiderlein war aber das Bett zu groß, es legte sich nicht hinein, sondern kroch in eine Ecke. Als es Mitternacht war, und der Riese meinte das Schneiderlein laͤge in tiefem Schlafe, so stand er auf, nahm eine große Eisenstange und
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