Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.gebeugt und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen. Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch, und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich 'sey still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.' Dann band es sein goldenes Strumpfband ab, und that es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen, und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Thierchen, und führte es weiter, und gieng immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lang lang gegangen waren, kamen sie endlich in ein kleines Haus, und das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es 'hier können wir bleiben und wohnen.' Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen gieng es aus, und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Rehchen brachte es zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand, und war vergnügt, und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen. Das dauerte nun eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren, da trug es sich zu, daß der König des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte darin das gebeugt und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkaͤlbchen. Nun weinte das Schwesterchen uͤber das arme verwuͤnschte Bruͤderchen, und das Rehchen weinte auch, und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Maͤdchen endlich ‘sey still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.’ Dann band es sein goldenes Strumpfband ab, und that es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen, und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Thierchen, und fuͤhrte es weiter, und gieng immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lang lang gegangen waren, kamen sie endlich in ein kleines Haus, und das Maͤdchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es ‘hier koͤnnen wir bleiben und wohnen.’ Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen gieng es aus, und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nuͤsse, und fuͤr das Rehchen brachte es zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand, und war vergnuͤgt, und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen muͤde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Ruͤcken des Rehkaͤlbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und haͤtte das Bruͤderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es waͤre ein herrliches Leben gewesen. Das dauerte nun eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren, da trug es sich zu, daß der Koͤnig des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte darin das <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0100" n="69"/> gebeugt und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkaͤlbchen.</p><lb/> <p>Nun weinte das Schwesterchen uͤber das arme verwuͤnschte Bruͤderchen, und das Rehchen weinte auch, und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Maͤdchen endlich ‘sey still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.’ Dann band es sein goldenes Strumpfband ab, und that es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen, und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Thierchen, und fuͤhrte es weiter, und gieng immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lang lang gegangen waren, kamen sie endlich in ein kleines Haus, und das Maͤdchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es ‘hier koͤnnen wir bleiben und wohnen.’ Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen gieng es aus, und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nuͤsse, und fuͤr das Rehchen brachte es zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand, und war vergnuͤgt, und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen muͤde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Ruͤcken des Rehkaͤlbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und haͤtte das Bruͤderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es waͤre ein herrliches Leben gewesen.</p><lb/> <p>Das dauerte nun eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren, da trug es sich zu, daß der Koͤnig des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte darin das </p> </div> </body> </text> </TEI> [69/0100]
gebeugt und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkaͤlbchen.
Nun weinte das Schwesterchen uͤber das arme verwuͤnschte Bruͤderchen, und das Rehchen weinte auch, und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Maͤdchen endlich ‘sey still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.’ Dann band es sein goldenes Strumpfband ab, und that es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen, und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Thierchen, und fuͤhrte es weiter, und gieng immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lang lang gegangen waren, kamen sie endlich in ein kleines Haus, und das Maͤdchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es ‘hier koͤnnen wir bleiben und wohnen.’ Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen gieng es aus, und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nuͤsse, und fuͤr das Rehchen brachte es zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand, und war vergnuͤgt, und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen muͤde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Ruͤcken des Rehkaͤlbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und haͤtte das Bruͤderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es waͤre ein herrliches Leben gewesen.
Das dauerte nun eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren, da trug es sich zu, daß der Koͤnig des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte darin das
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2015-05-11T18:40:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Göttinger Digitalisierungszentrum: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2015-06-15T16:12:00Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |