Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.war der Königin verliehen zu antworten, aber sie sprach: "nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet" und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus dem Arme und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind fort war, ging ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles, und konnte nichts dagegen sagen, der König aber hatte sie zu lieb, als daß ers glauben wollte. Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn, da trat in der Nacht wieder die Jungfrau Maria vor sie und sprach: "willst du nun gestehen, daß du die verbotene Thüre geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deinen Mund lösen, bleibst du aber in der Sünde und leugnest, so nehm ich auch dieses neugeborne mit mir" Da sprach die Königin wiederum: "nein ich habe die verbotene Thüre nicht geöffnet;" und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen mit in den Himmel. Am Morgen, als die Leute hörten, daß es auch verschwunden sey, sagten sie laut, die Königin hätte es gegessen und des Königs Räthe verlangten, daß sie sollte gerichtet werden. Der König aber hatte sie so lieb, daß er es nicht glauben wollte und den Räthen befahl bei Leibes- und Lebensstrafe nichts mehr darüber zu sprechen. Wieder nach einem Jahr gebar die Königin ein schönes Töchterlein, da erschien ihr auch wieder Nachts die Jungfrau Maria und sprach: "folge mir." Und sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel und zeigte ihr da ihre beiden ältesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Und als sich war der Koͤnigin verliehen zu antworten, aber sie sprach: „nein, ich habe die verbotene Thuͤr nicht geoͤffnet“ und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus dem Arme und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind fort war, ging ein Gemurmel unter den Leuten, die Koͤnigin waͤre eine Menschenfresserin und haͤtte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hoͤrte alles, und konnte nichts dagegen sagen, der Koͤnig aber hatte sie zu lieb, als daß ers glauben wollte. Nach einem Jahr gebar die Koͤnigin wieder einen Sohn, da trat in der Nacht wieder die Jungfrau Maria vor sie und sprach: „willst du nun gestehen, daß du die verbotene Thuͤre geoͤffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deinen Mund loͤsen, bleibst du aber in der Suͤnde und leugnest, so nehm ich auch dieses neugeborne mit mir“ Da sprach die Koͤnigin wiederum: „nein ich habe die verbotene Thuͤre nicht geoͤffnet;“ und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen mit in den Himmel. Am Morgen, als die Leute hoͤrten, daß es auch verschwunden sey, sagten sie laut, die Koͤnigin haͤtte es gegessen und des Koͤnigs Raͤthe verlangten, daß sie sollte gerichtet werden. Der Koͤnig aber hatte sie so lieb, daß er es nicht glauben wollte und den Raͤthen befahl bei Leibes- und Lebensstrafe nichts mehr daruͤber zu sprechen. Wieder nach einem Jahr gebar die Koͤnigin ein schoͤnes Toͤchterlein, da erschien ihr auch wieder Nachts die Jungfrau Maria und sprach: „folge mir.“ Und sie nahm sie bei der Hand und fuͤhrte sie in den Himmel und zeigte ihr da ihre beiden aͤltesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Und als sich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0076" n="12"/> war der Koͤnigin verliehen zu antworten, aber sie sprach: „nein, ich habe die verbotene Thuͤr nicht geoͤffnet“ und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus dem Arme und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind fort war, ging ein Gemurmel unter den Leuten, die Koͤnigin waͤre eine Menschenfresserin und haͤtte ihr eigenes Kind umgebracht. 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war der Koͤnigin verliehen zu antworten, aber sie sprach: „nein, ich habe die verbotene Thuͤr nicht geoͤffnet“ und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus dem Arme und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind fort war, ging ein Gemurmel unter den Leuten, die Koͤnigin waͤre eine Menschenfresserin und haͤtte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hoͤrte alles, und konnte nichts dagegen sagen, der Koͤnig aber hatte sie zu lieb, als daß ers glauben wollte.
Nach einem Jahr gebar die Koͤnigin wieder einen Sohn, da trat in der Nacht wieder die Jungfrau Maria vor sie und sprach: „willst du nun gestehen, daß du die verbotene Thuͤre geoͤffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deinen Mund loͤsen, bleibst du aber in der Suͤnde und leugnest, so nehm ich auch dieses neugeborne mit mir“ Da sprach die Koͤnigin wiederum: „nein ich habe die verbotene Thuͤre nicht geoͤffnet;“ und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen mit in den Himmel. Am Morgen, als die Leute hoͤrten, daß es auch verschwunden sey, sagten sie laut, die Koͤnigin haͤtte es gegessen und des Koͤnigs Raͤthe verlangten, daß sie sollte gerichtet werden. Der Koͤnig aber hatte sie so lieb, daß er es nicht glauben wollte und den Raͤthen befahl bei Leibes- und Lebensstrafe nichts mehr daruͤber zu sprechen.
Wieder nach einem Jahr gebar die Koͤnigin ein schoͤnes Toͤchterlein, da erschien ihr auch wieder Nachts die Jungfrau Maria und sprach: „folge mir.“ Und sie nahm sie bei der Hand und fuͤhrte sie in den Himmel und zeigte ihr da ihre beiden aͤltesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Und als sich
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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.
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