Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

ist eine Herberg für Räuber, die vom Raub heimkommen; wenn sie dich fänden, würden sie dich ermorden." Da sprach sie: "könnt ihr mich denn nicht schützen?" "Nein, antworteten sie, denn wir können nur eine Viertelstunde lang jeden Abend unsere Schwanenhaut uns abblasen und haben in der Zeit unsere menschliche Gestalt, hernach werden wir wieder verwandelt." "Kann ich euch aber nicht erlösen?" sprach das Mädchen. "Ach nein, antworteten sie, das kannst du nicht, denn es ist zu schwer: sechs Jahre lang darfst du nicht sprechen und nicht lachen, und mußt in der Zeit sechs Hemdlein aus Sternenblumen für uns zusammennähen, sprichst du ein einziges Wort, so ist alle Arbeit verloren." Und als die Brüder das gesprochen, war die Viertelstunde herum und sie wurden wieder in Schwäne verwandelt.

Das Mädchen aber sprach in seinem Herzen: "ich will meine Brüder erlösen und sollt es mein Tod seyn." Und am andern Morgen sammelte es sich Sternblumen, setzte sich damit auf einen hohen Baum und fing an zu nähen. Reden konnte es mit niemand und lachen wollte es nicht, es saß da und sah nur auf seine Arbeit. Als es schon lange Zeit da zugebracht, geschah es, daß einmal der König dieses Landes in dem Wald jagte und seine Jäger zu dem Baum kamen, auf welchem das Mädchen saß und nähte. Sie riefen: "wer bist du? komm herab zu uns;" aber es gab keine Antwort und schüttelte nur mit dem Kopf. Als sie von neuem riefen, wollte es sie mit Geschenken befriedigen und warf ihnen seine goldne Halskette herab. Und weil sie nicht abließen, auch noch seinen Gürtel, als auch dies nichts half, seine

ist eine Herberg fuͤr Raͤuber, die vom Raub heimkommen; wenn sie dich faͤnden, wuͤrden sie dich ermorden.“ Da sprach sie: „koͤnnt ihr mich denn nicht schuͤtzen?“ „Nein, antworteten sie, denn wir koͤnnen nur eine Viertelstunde lang jeden Abend unsere Schwanenhaut uns abblasen und haben in der Zeit unsere menschliche Gestalt, hernach werden wir wieder verwandelt.“ „Kann ich euch aber nicht erloͤsen?“ sprach das Maͤdchen. „Ach nein, antworteten sie, das kannst du nicht, denn es ist zu schwer: sechs Jahre lang darfst du nicht sprechen und nicht lachen, und mußt in der Zeit sechs Hemdlein aus Sternenblumen fuͤr uns zusammennaͤhen, sprichst du ein einziges Wort, so ist alle Arbeit verloren.“ Und als die Bruͤder das gesprochen, war die Viertelstunde herum und sie wurden wieder in Schwaͤne verwandelt.

Das Maͤdchen aber sprach in seinem Herzen: „ich will meine Bruͤder erloͤsen und sollt es mein Tod seyn.“ Und am andern Morgen sammelte es sich Sternblumen, setzte sich damit auf einen hohen Baum und fing an zu naͤhen. Reden konnte es mit niemand und lachen wollte es nicht, es saß da und sah nur auf seine Arbeit. Als es schon lange Zeit da zugebracht, geschah es, daß einmal der Koͤnig dieses Landes in dem Wald jagte und seine Jaͤger zu dem Baum kamen, auf welchem das Maͤdchen saß und naͤhte. Sie riefen: „wer bist du? komm herab zu uns;“ aber es gab keine Antwort und schuͤttelte nur mit dem Kopf. Als sie von neuem riefen, wollte es sie mit Geschenken befriedigen und warf ihnen seine goldne Halskette herab. Und weil sie nicht abließen, auch noch seinen Guͤrtel, als auch dies nichts half, seine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0310" n="246"/>
ist eine Herberg fu&#x0364;r Ra&#x0364;uber, die vom Raub heimkommen; wenn sie dich fa&#x0364;nden, wu&#x0364;rden sie dich ermorden.&#x201C; Da sprach sie: &#x201E;ko&#x0364;nnt ihr mich denn nicht schu&#x0364;tzen?&#x201C; &#x201E;Nein, antworteten sie, denn wir ko&#x0364;nnen nur eine Viertelstunde lang jeden Abend unsere Schwanenhaut uns abblasen und haben in der Zeit unsere menschliche Gestalt, hernach werden wir wieder verwandelt.&#x201C; &#x201E;Kann ich euch aber nicht erlo&#x0364;sen?&#x201C; sprach das Ma&#x0364;dchen. &#x201E;Ach nein, antworteten sie, das kannst du nicht, denn es ist zu schwer: sechs Jahre lang darfst du nicht sprechen und nicht lachen, und mußt in der Zeit sechs Hemdlein aus Sternenblumen fu&#x0364;r uns zusammenna&#x0364;hen, sprichst du ein einziges Wort, so ist alle Arbeit verloren.&#x201C; Und als die Bru&#x0364;der das gesprochen, war die Viertelstunde herum und sie wurden wieder in Schwa&#x0364;ne verwandelt.</p><lb/>
        <p>Das Ma&#x0364;dchen aber sprach in seinem Herzen: &#x201E;ich will meine Bru&#x0364;der erlo&#x0364;sen und sollt es mein Tod seyn.&#x201C; Und am andern Morgen sammelte es sich Sternblumen, setzte sich damit auf einen hohen Baum und fing an zu na&#x0364;hen. Reden konnte es mit niemand und lachen wollte es nicht, es saß da und sah nur auf seine Arbeit. Als es schon lange Zeit da zugebracht, geschah es, daß einmal der Ko&#x0364;nig dieses Landes in dem Wald jagte und seine Ja&#x0364;ger zu dem Baum kamen, auf welchem das Ma&#x0364;dchen saß und na&#x0364;hte. Sie riefen: &#x201E;wer bist du? komm herab zu uns;&#x201C; aber es gab keine Antwort und schu&#x0364;ttelte nur mit dem Kopf. Als sie von neuem riefen, wollte es sie mit Geschenken befriedigen und warf ihnen seine goldne Halskette herab. Und weil sie nicht abließen, auch noch seinen Gu&#x0364;rtel, als auch dies nichts half, seine
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[246/0310] ist eine Herberg fuͤr Raͤuber, die vom Raub heimkommen; wenn sie dich faͤnden, wuͤrden sie dich ermorden.“ Da sprach sie: „koͤnnt ihr mich denn nicht schuͤtzen?“ „Nein, antworteten sie, denn wir koͤnnen nur eine Viertelstunde lang jeden Abend unsere Schwanenhaut uns abblasen und haben in der Zeit unsere menschliche Gestalt, hernach werden wir wieder verwandelt.“ „Kann ich euch aber nicht erloͤsen?“ sprach das Maͤdchen. „Ach nein, antworteten sie, das kannst du nicht, denn es ist zu schwer: sechs Jahre lang darfst du nicht sprechen und nicht lachen, und mußt in der Zeit sechs Hemdlein aus Sternenblumen fuͤr uns zusammennaͤhen, sprichst du ein einziges Wort, so ist alle Arbeit verloren.“ Und als die Bruͤder das gesprochen, war die Viertelstunde herum und sie wurden wieder in Schwaͤne verwandelt. Das Maͤdchen aber sprach in seinem Herzen: „ich will meine Bruͤder erloͤsen und sollt es mein Tod seyn.“ Und am andern Morgen sammelte es sich Sternblumen, setzte sich damit auf einen hohen Baum und fing an zu naͤhen. Reden konnte es mit niemand und lachen wollte es nicht, es saß da und sah nur auf seine Arbeit. Als es schon lange Zeit da zugebracht, geschah es, daß einmal der Koͤnig dieses Landes in dem Wald jagte und seine Jaͤger zu dem Baum kamen, auf welchem das Maͤdchen saß und naͤhte. Sie riefen: „wer bist du? komm herab zu uns;“ aber es gab keine Antwort und schuͤttelte nur mit dem Kopf. Als sie von neuem riefen, wollte es sie mit Geschenken befriedigen und warf ihnen seine goldne Halskette herab. Und weil sie nicht abließen, auch noch seinen Guͤrtel, als auch dies nichts half, seine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Bayerische Staatsbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-06-15T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/310
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/310>, abgerufen am 20.05.2024.