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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

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und sprach zum König: "es ist ein gemeines Bettelmädchen, daß du dir mitgebracht, wer weiß, was für Böses sie heimlich treibt. Wenn sie stumm ist und nicht sprechen kann, so könnte sie doch einmal lachen, aber wer nicht lacht, der hat ein böses Gewissen." Der König wollte zuerst nicht daran glauben, aber sie trieb es so lang, bis er sich endlich überreden ließ und sie zum Tod verurtheilte.

Nun ward im Hof ein großes Feuer angezündet, darin sie sollte verbrannt werden und der König stand oben und sahs mit weinenden Augen an, weil er sie noch immer so lieb hatte. Und als sie schon an den Pfahl festgebunden war und das Feuer schon nach ihren Kleidern die Zungen streckte, da war eben der letzte Augenblick von den sieben Jahren verflossen und in der Luft ließ sich ein Geschwirr hören. Zwölf Raben kamen hergezogen und senkten sich nieder und wie sie die Erde berührten, waren es ihre zwölf Brüder, die sie erlöst hatte. Sie rissen das Feuer auseinander, löschten die Flammen, machten ihre liebe Schwester frei und küßten und herzten sie. Nun durfte sie ihren Mund aufthun und reden und erzählte dem König, wie es gekommen war, daß sie stumm gewesen und niemals gelacht hatte, der freute sich, daß sie unschuldig war, und sie lebten nun alle zusammen in Lust und Einigkeit bis an ihren Tod. Die böse Stiefmutter ward in ein Faß gesteckt, das mit siedendem Oehl und giftigen Schlangen angefüllt war und starb eines bösen Todes.


und sprach zum Koͤnig: „es ist ein gemeines Bettelmaͤdchen, daß du dir mitgebracht, wer weiß, was fuͤr Boͤses sie heimlich treibt. Wenn sie stumm ist und nicht sprechen kann, so koͤnnte sie doch einmal lachen, aber wer nicht lacht, der hat ein boͤses Gewissen.“ Der Koͤnig wollte zuerst nicht daran glauben, aber sie trieb es so lang, bis er sich endlich uͤberreden ließ und sie zum Tod verurtheilte.

Nun ward im Hof ein großes Feuer angezuͤndet, darin sie sollte verbrannt werden und der Koͤnig stand oben und sahs mit weinenden Augen an, weil er sie noch immer so lieb hatte. Und als sie schon an den Pfahl festgebunden war und das Feuer schon nach ihren Kleidern die Zungen streckte, da war eben der letzte Augenblick von den sieben Jahren verflossen und in der Luft ließ sich ein Geschwirr hoͤren. Zwoͤlf Raben kamen hergezogen und senkten sich nieder und wie sie die Erde beruͤhrten, waren es ihre zwoͤlf Bruͤder, die sie erloͤst hatte. Sie rissen das Feuer auseinander, loͤschten die Flammen, machten ihre liebe Schwester frei und kuͤßten und herzten sie. Nun durfte sie ihren Mund aufthun und reden und erzaͤhlte dem Koͤnig, wie es gekommen war, daß sie stumm gewesen und niemals gelacht hatte, der freute sich, daß sie unschuldig war, und sie lebten nun alle zusammen in Lust und Einigkeit bis an ihren Tod. Die boͤse Stiefmutter ward in ein Faß gesteckt, das mit siedendem Oehl und giftigen Schlangen angefuͤllt war und starb eines boͤsen Todes.


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[54/0118] und sprach zum Koͤnig: „es ist ein gemeines Bettelmaͤdchen, daß du dir mitgebracht, wer weiß, was fuͤr Boͤses sie heimlich treibt. Wenn sie stumm ist und nicht sprechen kann, so koͤnnte sie doch einmal lachen, aber wer nicht lacht, der hat ein boͤses Gewissen.“ Der Koͤnig wollte zuerst nicht daran glauben, aber sie trieb es so lang, bis er sich endlich uͤberreden ließ und sie zum Tod verurtheilte. Nun ward im Hof ein großes Feuer angezuͤndet, darin sie sollte verbrannt werden und der Koͤnig stand oben und sahs mit weinenden Augen an, weil er sie noch immer so lieb hatte. Und als sie schon an den Pfahl festgebunden war und das Feuer schon nach ihren Kleidern die Zungen streckte, da war eben der letzte Augenblick von den sieben Jahren verflossen und in der Luft ließ sich ein Geschwirr hoͤren. Zwoͤlf Raben kamen hergezogen und senkten sich nieder und wie sie die Erde beruͤhrten, waren es ihre zwoͤlf Bruͤder, die sie erloͤst hatte. Sie rissen das Feuer auseinander, loͤschten die Flammen, machten ihre liebe Schwester frei und kuͤßten und herzten sie. Nun durfte sie ihren Mund aufthun und reden und erzaͤhlte dem Koͤnig, wie es gekommen war, daß sie stumm gewesen und niemals gelacht hatte, der freute sich, daß sie unschuldig war, und sie lebten nun alle zusammen in Lust und Einigkeit bis an ihren Tod. Die boͤse Stiefmutter ward in ein Faß gesteckt, das mit siedendem Oehl und giftigen Schlangen angefuͤllt war und starb eines boͤsen Todes.

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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/118>, abgerufen am 03.05.2024.