Einmal mitten im Winter, als der Schnee hoch lag, nähte sie ein Kleid von feinem Pa- pier, und als es fertig war, rief sie das Stief- kind und sagte: "ich habe Lust Erdbeeren zu essen, da zieh das Kleid an, geh in den Wald und suche mir das Körbchen voll: und daß du nicht eher nach Haus kommst, bis du es voll hast!" Das Mädchen weinte bitterlich und sagte: "im Winter wachsen keine Erdbeeren im Walde, und wenn sie auch da wären so liegt der Schnee darauf, wie soll ich sie finden; und draußen ists so kalt, daß der Athem friert, wie kann ich in dem Papierkleid gehen, da weht ja der Wind durch, und die Dornen reißen es mir herunter." -- Rede kein Wort mehr, sag- te die Mutter, und geh gleich hinaus und su- che die Erdbeeren;" in ihrem neidischen Her- zen aber gedachte sie, das Mädchen werde drau- ßen erfrieren und nimmermehr heimkommen, darum hatte sie ihm auch das dünne Papier- kleid gemacht. Das Mädchen aber war gehor- sam, that das Papierkleid um, ging in den Wald, da war aber nichts als Schnee und nir- gends auch nur ein grün Hälmchen zu sehen. Es ging immer weiter, und als es mitten in den Wald kam, da sah es ein kleines Haus, aus dem guckten drei kleine Männer. Es sagte ihnen guten Tag, und weil es so artig grüßte, fragten sie, was es in dem leichten Papierklei-
Einmal mitten im Winter, als der Schnee hoch lag, naͤhte ſie ein Kleid von feinem Pa- pier, und als es fertig war, rief ſie das Stief- kind und ſagte: „ich habe Luſt Erdbeeren zu eſſen, da zieh das Kleid an, geh in den Wald und ſuche mir das Koͤrbchen voll: und daß du nicht eher nach Haus kommſt, bis du es voll haſt!“ Das Maͤdchen weinte bitterlich und ſagte: „im Winter wachſen keine Erdbeeren im Walde, und wenn ſie auch da waͤren ſo liegt der Schnee darauf, wie ſoll ich ſie finden; und draußen iſts ſo kalt, daß der Athem friert, wie kann ich in dem Papierkleid gehen, da weht ja der Wind durch, und die Dornen reißen es mir herunter.“ — Rede kein Wort mehr, ſag- te die Mutter, und geh gleich hinaus und ſu- che die Erdbeeren;“ in ihrem neidiſchen Her- zen aber gedachte ſie, das Maͤdchen werde drau- ßen erfrieren und nimmermehr heimkommen, darum hatte ſie ihm auch das duͤnne Papier- kleid gemacht. Das Maͤdchen aber war gehor- ſam, that das Papierkleid um, ging in den Wald, da war aber nichts als Schnee und nir- gends auch nur ein gruͤn Haͤlmchen zu ſehen. Es ging immer weiter, und als es mitten in den Wald kam, da ſah es ein kleines Haus, aus dem guckten drei kleine Maͤnner. Es ſagte ihnen guten Tag, und weil es ſo artig gruͤßte, fragten ſie, was es in dem leichten Papierklei-
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Einmal mitten im Winter, als der Schnee
hoch lag, naͤhte ſie ein Kleid von feinem Pa-
pier, und als es fertig war, rief ſie das Stief-
kind und ſagte: „ich habe Luſt Erdbeeren zu
eſſen, da zieh das Kleid an, geh in den Wald
und ſuche mir das Koͤrbchen voll: und daß du
nicht eher nach Haus kommſt, bis du es voll
haſt!“ Das Maͤdchen weinte bitterlich und
ſagte: „im Winter wachſen keine Erdbeeren im
Walde, und wenn ſie auch da waͤren ſo liegt
der Schnee darauf, wie ſoll ich ſie finden; und
draußen iſts ſo kalt, daß der Athem friert, wie
kann ich in dem Papierkleid gehen, da weht
ja der Wind durch, und die Dornen reißen es
mir herunter.“ — Rede kein Wort mehr, ſag-
te die Mutter, und geh gleich hinaus und ſu-
che die Erdbeeren;“ in ihrem neidiſchen Her-
zen aber gedachte ſie, das Maͤdchen werde drau-
ßen erfrieren und nimmermehr heimkommen,
darum hatte ſie ihm auch das duͤnne Papier-
kleid gemacht. Das Maͤdchen aber war gehor-
ſam, that das Papierkleid um, ging in den
Wald, da war aber nichts als Schnee und nir-
gends auch nur ein gruͤn Haͤlmchen zu ſehen.
Es ging immer weiter, und als es mitten in
den Wald kam, da ſah es ein kleines Haus,
aus dem guckten drei kleine Maͤnner. Es ſagte
ihnen guten Tag, und weil es ſo artig gruͤßte,
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/78>, abgerufen am 21.11.2024.
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