herbeilocken und zum trinken reizen, wer aber davon trank, der ward in ein Rehkälbchen ver- wandelt. Brüderchen kam bald mit dem Schwe- sterchen zu dem Brünnlein, und als er es so glitzerig über die Steine springen sah, ward seine Lust immer größer, und er wollte davon trinken. Aber dem Schwesterchen war Angst, es meinte, das Brünnlein spräche im Rauschen und sagte: "wer mich trinkt, wird zum Reh- kälbchen; wer mich trinkt, wird zum Rehkälb- chen!" da bat es das Brüderchen, nicht von dem Wasser zu trinken. "Ich höre nichts, sag- te das Brüderchen, als wie das Wasser so lieb- lich rauscht, laß mich nur gehen!" Damit legte es sich nieder, beugte sich herab und trank, und wie der erste Tropfen auf seine Lippen gekommen war, da lag ein Rehkälbchen an dem Brünnlein.
Das Schwesterchen weinte und weinte, die Hexe aber war böse, daß sie es nicht auch zum Trinken hatte verführen können. Nachdem es drei Tage geweint, stand es auf und sammelte die Binsen in dem Wald, und flocht ein wei- ches Seil daraus. Dann band es das Rehkälb- chen daran und führte es mit sich. Es suchte ihm auch eine Höhle, trug Moos und Laub hin- ein und machte ihm ein weiches Lager; am Mor- gen ging es mit ihm hinaus, wo zartes Gras war und sammelte das allerschönste, das fraß es ihm aus der Hand, und das Rehkälbchen war
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herbeilocken und zum trinken reizen, wer aber davon trank, der ward in ein Rehkaͤlbchen ver- wandelt. Bruͤderchen kam bald mit dem Schwe- ſterchen zu dem Bruͤnnlein, und als er es ſo glitzerig uͤber die Steine ſpringen ſah, ward ſeine Luſt immer groͤßer, und er wollte davon trinken. Aber dem Schweſterchen war Angſt, es meinte, das Bruͤnnlein ſpraͤche im Rauſchen und ſagte: „wer mich trinkt, wird zum Reh- kaͤlbchen; wer mich trinkt, wird zum Rehkaͤlb- chen!“ da bat es das Bruͤderchen, nicht von dem Waſſer zu trinken. „Ich hoͤre nichts, ſag- te das Bruͤderchen, als wie das Waſſer ſo lieb- lich rauſcht, laß mich nur gehen!“ Damit legte es ſich nieder, beugte ſich herab und trank, und wie der erſte Tropfen auf ſeine Lippen gekommen war, da lag ein Rehkaͤlbchen an dem Bruͤnnlein.
Das Schweſterchen weinte und weinte, die Hexe aber war boͤſe, daß ſie es nicht auch zum Trinken hatte verfuͤhren koͤnnen. Nachdem es drei Tage geweint, ſtand es auf und ſammelte die Binſen in dem Wald, und flocht ein wei- ches Seil daraus. Dann band es das Rehkaͤlb- chen daran und fuͤhrte es mit ſich. Es ſuchte ihm auch eine Hoͤhle, trug Moos und Laub hin- ein und machte ihm ein weiches Lager; am Mor- gen ging es mit ihm hinaus, wo zartes Gras war und ſammelte das allerſchoͤnſte, das fraß es ihm aus der Hand, und das Rehkaͤlbchen war
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herbeilocken und zum trinken reizen, wer aber
davon trank, der ward in ein Rehkaͤlbchen ver-
wandelt. Bruͤderchen kam bald mit dem Schwe-
ſterchen zu dem Bruͤnnlein, und als er es ſo
glitzerig uͤber die Steine ſpringen ſah, ward
ſeine Luſt immer groͤßer, und er wollte davon
trinken. Aber dem Schweſterchen war Angſt,
es meinte, das Bruͤnnlein ſpraͤche im Rauſchen
und ſagte: „wer mich trinkt, wird zum Reh-
kaͤlbchen; wer mich trinkt, wird zum Rehkaͤlb-
chen!“ da bat es das Bruͤderchen, nicht von
dem Waſſer zu trinken. „Ich hoͤre nichts, ſag-
te das Bruͤderchen, als wie das Waſſer ſo lieb-
lich rauſcht, laß mich nur gehen!“ Damit legte
es ſich nieder, beugte ſich herab und trank, und
wie der erſte Tropfen auf ſeine Lippen gekommen
war, da lag ein Rehkaͤlbchen an dem Bruͤnnlein.
Das Schweſterchen weinte und weinte, die
Hexe aber war boͤſe, daß ſie es nicht auch zum
Trinken hatte verfuͤhren koͤnnen. Nachdem es
drei Tage geweint, ſtand es auf und ſammelte
die Binſen in dem Wald, und flocht ein wei-
ches Seil daraus. Dann band es das Rehkaͤlb-
chen daran und fuͤhrte es mit ſich. Es ſuchte
ihm auch eine Hoͤhle, trug Moos und Laub hin-
ein und machte ihm ein weiches Lager; am Mor-
gen ging es mit ihm hinaus, wo zartes Gras
war und ſammelte das allerſchoͤnſte, das fraß es
ihm aus der Hand, und das Rehkaͤlbchen war
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/69>, abgerufen am 21.11.2024.
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